Im allerersten Moment war Talianna so überrascht, daß sie Gedelfi nur mit offenem Mund anstarrte. Dann ergriff sie Zorn. Wütend schüttelte sie seine Hand ab und rutschte noch ein Stück weiter von ihm fort. Was fiel diesen beiden ein, wie um ein Stück Eisen um sie zu feilschen?
»Ich werde nirgendwo hingehen!« protestierte sie.
»Ich - «
»Du wirst den Mund halten und tun, was ich dir sage!«
Gedelfis Stimme war so scharf und befehlend, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte. Taliannas gerechter Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war, und zurück blieben Unsicherheit und Verwirrung.
»Aber du... du brauchst mich!« sagte sie. »Was willst du ohne mich anfangen?«
»Ich brauche dich?« Gedelfi lachte abfällig. »Was bil-dest du dir ein, du dummes Kind? Ich brauch dich ungefähr so dringend wie einen Kropf, oder ein Geschwür am Hintern.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte Talianna nicht härter treffen können. Entsetzt starrte sie Gedelfi an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber wir... wir sind doch immer Freunde gewesen«, jammerte sie. »Ich habe dir doch immer geholfen, und du - «
»Geholfen?« Gedelfi machte ein abfälliges Geräusch.
»Auf die Nerven gegangen bist du mir, mit deinen dummen Fragen. Manchmal warst du ganz nützlich, das stimmt. Aber das heißt nicht, daß ich dich noch länger ertragen muß.«
Talianna begann zu weinen. Irgendwo in ihr war eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Gedelfi sie absichtlich verletzte, um ihr die Entscheidung zu erleichtern, und sie wußte einfach, daß es ganz und gar nicht so gewesen war, wie er behauptete. Aber dieses Wissen nutzte wenig. Seine Worte taten weh. Verdammt weh.
Und nach einer Weile stand sie ohne ein weiteres Wort auf und ging zu Hraban. Noch am gleichen Abend verlie-
ßen sie das zerstörte Dorf an der Flußbiegung für immer.
»Das... ist aber eine sehr traurige Geschichte«, sagte das Mädchen.
Seit langer Zeit waren es die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Die Frau hatte geredet, mit sehr ruhiger, sehr sanfter Stimme, in der etwas von der Trauer mitklang, die das Mädchen selbst verspürte; ein Schmerz, der viel zu gewaltig war, als daß es sein wahres Ausmaß jetzt schon begreifen konnte. Danach hatten sie beide geschwiegen, fast ebenso lange, und auch dieses Schweigen war voller Trauer gewesen.
Jetzt nickte die fremde Frau. Wieder hob sie die Hand und berührte die des Mädchens, und diesmal fuhr das Kind nicht unter der Berührung zusammen, sondern erwiderte den Hände-druck der Fremden sogar. Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie konnte es nicht.
»Das ist es«, bestätigte die Frau. Sie lächelte. Das Mondlicht zauberte Schatten auf ihre Züge, die sie älter erscheinen ließen, als das Mädchen sie bisher eingeschätzt hatte. Vielleicht so alt, wie sie war. »Sie ähnelt deiner, bis hierhin wenigstens. Auch du bist die letzte Überlebende.«
»Die Letzte?« Das Mädchen blinzelte, drehte den Kopf und blickte zu den Ruinen der brennenden Stadt zurück. Über den Trümmern hing noch immer ein roter Hauch, und mit dem Wind wehte Brandgeruch herbei.
»Was geschah mit den anderen?« fragte es nach einer Weile, und ohne die Frau anzublicken. »Mit dem Blinden und der verrückten Frau?« .
»Hrabans Männer haben sie getötet«, antwortete die Fremde.
»Sie waren natürlich keine Söldner, und sie kamen auch nicht zufällig vorbei. Aber das alles hat Talianna erst später erfahren.« Sie zögerte fast unmerklich, und als sie weitersprach, war in ihrer Stimme ein bitterer Klang. »Sehr viel später.«
»Was geschah mit ihr?« fragte das Mädchen.
»Mit Talianna?« Die Fremde lächelte traurig. »Es gibt sie nicht mehr, Kleines.«
»Hat Hraban sie auch getötet?« fragte das Mädchen erschrok-ken. Sie wußte nicht, warum, aber der Gedanke machte ihr Angst. Sie wollte es nicht.
»Getötet?« Die Fremde lächelte. »Nein. Aber er... machte
eine andere aus ihr. Er nahm sie mit zu sich, zu seinen Leuten, weißt du? Und später hat er sie geheiratet.«
»Geheiratet?« wiederholte das Mädchen ungläubig. »Er?«
»Warum nicht? Talianna war ein hübsches Mädchen, und sehr klug. Und sie hatte ja niemanden mehr, zu dem sie gehörte.«
Es fiel dem Mädchen schwer, die Worte der Frau zu glauben, und sie sagte es.
Wieder lächelte die Fremde auf diese sonderbare, fast unheimliche Art. »Du verstehst nicht, warum sie es tat«, sagte sie.
»Dabei ist die Antwort sehr einfach. Sie hatte etwas, das ihr Kraft gab. Ihren Haß.«
»Haß?« Das Mädchen verstand nun gar nichts mehr. Wie konnte jemand jemanden aus Haß heiraten?
»Haß«, bestätigte die Frau. »Den gleichen Haß, den auch du jetzt spürst, Kind. Haß auf die, die ihre Familie getötet hatten.
Die ihre Heimat verbrannten, ihr Leben vernichteten. Vielleicht spürst du es jetzt noch nicht, aber er wird kommen. Du mußt dich dagegen wehren, hörst du? Er ist eine große Kraft, aber er ist nicht gut. Lasse nicht zu, daß er Gewalt über dich erlangt.«
»Aber Talianna - «
»Talianna existierte schon bald nicht mehr«, unterbrach sie die Frau. »Sie heiratete Hraban und wurde eine andere. Sie änderte sogar ihren Namen und nannte sich nur noch Tally.«
»Tally.« Das Mädchen wiederholte den Namen ein paarmal in Gedanken, ehe sie zu dem Schluß kam, daß er ihr nicht gefiel.
Nicht so gut wie Talianna. Sie sagte es.
»Ich weiß«, sagte die Fremde. »Er klingt... härter. Gnadenloser. Und so wurde sie auch. Der Haß zerfraß sie, ohne daß sie es selbst merkte, und wenn, wäre es ihr gleich gewesen, denn er gab ihr auch Kraft. Die Kraft, alles zu erreichen, was sie wollte.«
»Und was war das?« fragte das Mädchen.
»Rache«, antwortete die Frau. »Macht. Die Macht, die zu finden, die für den Tod ihrer Stadt verantwortlich waren, und zu bestrafen. Sie heiratete Hraban, und fünf Jahre später tötete sie ihn und wurde selbst zur Anführerin der Sippe.«
Die Augen des Mädchens wurden groß vor Staunen, als sie
dies hörte, aber die Frau nickte, um ihre Worte zu bekräftigen.
»Sie nahm Hrabans Stelle eine, sagte sie. »Oh, es war nicht leicht, denn sie war eine Frau, und eine Fremde dazu. Aber der Haß gab ihr die Kraft, ihr Ziel zu erreichen.« Sie schwieg einen Moment, nahm die Hand vom Arm des Mädchens und blickte in den Himmel empor, als suche sie etwas.
»Und was hat sie getan?« fragte das Mädchen, als die fremde Frau nicht von selbst weitersprach, Seine Neugier war geweckt, und die Geschichte der Fremden half ihr, den entsetzlichen Schmerz in ihrem Inneren wenigstens für eine kurze Weile zu vergessen. Und sie hat te das Gefühl, daß das, was sie hörte, von großer Wichtigkeit war, wenn sie auch nicht wußte, warum.
»Ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte die Frau. »Sie dachte es, damals, nach Hrabans Tod, aber das stimmte nicht.