Sie haßte noch immer, mehr als zuvor, und als es Hraban nicht mehr gab, da suchte sie sich etwas Neues, was sie hassen und bekämpfen konnte...«
2. KAPITEL - DER TURM
Die Krell-Echse sprang so warnungslos aus ihrem Sand-loch, daß selbst Hrhons übermenschlich schnelle Reaktion zu spät kam. Der Waga stieß den schrillen Warn-schrei seines Volkes aus, fuhr im Sattel herum und riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Die Waffe zischte dicht über den Hals von Tallys Reitpferd durch die Luft und grub sich mit einem dumpfen Geräusch in den Sand, mit einer Kraft und Schnelligkeit geschleudert, die der einer Kanonenkugel kaum nachstand.
Die Krell-Echse traf sie nicht.
Tally riß im letzten Moment die Arme vor das Gesicht, als sie den gefleckten Schatten auf sich zufliegen sah. Die Krell-Echse prallte gegen sie, klammerte sich mit allen acht Beinen an ihren Arm, ringelte den stahlbewehrten Schwanz um ihren Bizeps und versuchte ihr mit zwei Dutzend winziger, messerscharfer Krallen das Gesicht zu zerfetzen. Ein brennender Schmerz fuhr durch Tallys Hand, als sich die Kiefer des Miniatur-Monsters um ihren rechten Zeigefinger schlossen und nadelspitze Zähnchen in ihre Haut eindrangen.
Sie fluchte ungehemmt, drehte das Gesicht von den wirbelnden Klauen weg und packte die Echse mit beiden Händen. Das Tier stieß ein wütendes Zischen aus, veränderte seine Farbe von Schwarzbraun zu einem grellen, lodernden Rot und löste den Schwanz von ihrem Arm, um mit seinem stachelbewehrten Ende nach ihren Augen zu schlagen.
Tally hielt das Tier so weit von sich fort, wie sie nur konnte, betrachtete es einen Augenblick lang mit einer Mischung aus Wut und gelindem Interesse und brach ihm dann mit einer raschen Bewegung das Rückgrat. Die Krell-Echse zuckte noch einmal und erschlaffte plötzlich in ihren Händen.
Tally ließ den Kadaver achtlos in den Sand fallen und sah wütend zu Hrhon auf.
»Du blöder Flachkopf!« schrie sie. »Kannst du nicht besser aufpassen? Um ein Haar hättest du mit deinem verdammten Dolch mein Pferd getroffen! Wozu nehme ich euch überhaupt mit? Um mich aufzuschlitzen?«
Auf dem geschuppten Reptiliengesicht des Waga war keine Reaktion auf ihre Worte zu erkennen, - was nicht weiter verwunderlich war, dachte Tally mit einer Mischung aus Resignation und Zorn. Wenn man ein Gesicht wie ein fünfzehn Jahre alter Stiefel hatte, den noch dazu ein Mann mit zu großen Füßen getragen hatte, und das davon abgesehen nur aus Knochen und Panzerplatten bestand, war es schlechterdings unmöglich, darauf irgendeine Reaktion zu erkennen. Aber Hrhon zuckte sichtlich zusammen und senkte den Blick. Tallys Wut-ausbrüche waren selbst bei den Wagas bekannt und gefürchtet. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie Hrhon oder Essk absteigen und stundenlang durch den glühenden Wüstensand zu Fuß hinter sich hergehen ließ. Auf der der Sonne zugewandten Seite der Horntiere, selbst-verständlich.
Aber diesmal verzichtete sie auf die Bestrafung. Sie waren ihrem Ziel zu nahe, und sie waren zu lange unterwegs gewesen, um jetzt noch Zeit zu verschwenden. Außerdem entsprang ihre Erregung wohl mehr dem Schrecken als wirklicher Angst. Krell-Echsen waren harmlos: gierige kleine Ungeheuer, die einfach alles angriffen, was sich in ihrer Nähe bewegte, und dabei nur allzu leicht vergaß er, daß sie nur wenig größer als eine normale Männerhand waren. Ihre einwärts gebogenen Fangzähne enthielten in winzigen Hohlöhren ein geradezu mörderisches Gift, das im Bruchteil einer Sekunde zu Krämpfen und in weniger als einer Minute zum Tode führte, allerdings einen kleinen Schönheitsfehler hatte: es wirkte nur auf Krell-Echsen. Tally hatte mehr als eines dieser angriffslustigen kleinen Mistviecher gesehen, das sich aus lauter Blödheit selbst gebissen und vergiftet hatte.
Nein - dachte sie spöttisch. Krell-Echsen waren eine glatte Fehlkonstruktion der Natur. Einzig die Tatsache, daß die Gehranwüste einer der unwirtlichsten Flecken der Welt war und es hier so gut wie keine größeren Raubtiere gab, hatte sie bisher davor bewahrt, sich aus purer Dummheit selbst auszurotten.
Tally betrachtete das tote Reptil einen Herzschlag lang stirnrunzelnd und deutete dann mit einer wütenden Kopfbewegung auf den flachen Trichter, den Hrhons Dolch in den Sand gegraben hatte.
»Nun steig schon ab und such deine Waffe«, sagte sie ungehalten. »Aber beeil dich gefälligst. Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Hrhons Horntier bewegte sich unruhig, als der Waga damit begann, seine Leibriemen zu lösen. Tally konnte sich trotz allem eines flüchtigen Lächelns nicht erweh-ren, als sie Hrhon bei seinen Vorbereitungen zusah.
Wagas waren Kraftpakete; vierhundert Pfund Muskeln und Sehnen, die massive Eisenholztüren so spielend einrennen konnten, wie ein Mensch ein Blatt Papier zerreißt, und deren Entschlossenheit im Kampf durch keine nennenswerte Gehirnmasse beeinträchtigt wurde.
Mit bloßen Händen waren sie nicht zu besiegen, jedenfalls nicht von Menschen und auch kaum von irgendeinem anderen Wesen, das sie kannte. Aber sie bezahlten dafür mit einer Tolpatschigkeit, die sie immer wieder zur Zielscheibe von Spott und Hohn werden ließen.
Selbst Tally amüsierte es immer wieder, einem Waga beim Auf- und Absteigen auf sein Reittier zuzusehen, obwohl sie diesen Vorgang schon unzählige Male beobachtet hatte. Wagas waren so kurzbeinig, daß sie sich im Sattel festbinden mußten, um nicht bei der ersten uner-warteten Bewegung ihrer Horntiere aus vier Metern Höhe in den Sand zu fallen.
Während Hrhon damit fortfuhr, seine Leibriemen zu lösen, trieb Tally ihr Pferd mit leisem Schenkeldruck aus dem Schatten des mächtigen Horntieres heraus und trabte langsam den nächsten Dünenhang hinauf. Das Tier wieherte unwillig, als die sengenden Strahlen der Sonne sein ungeschütztes Fell trafen. Tally achtete normalerweise darauf, stets im Schatten der gewaltigen Horntiere zu bleiben, um die Leiber der beiden stachelbewehrten Ungeheuer wie lebende Schutzschilde zwischen sich und der sengenden Sonne zu haben, und sie spürte erst jetzt richtig, wie heiß es wirklich war. Der Wind strich wie eine warme, unangenehme Hand über ihren Rücken, und ihre Augen begannen beinahe sofort zu tränen, als sie aus dem Schatten heraus war. Sie bekam fast augenblicklich Durst.
Unter den Hufen ihres Pferdes wirbelten kleine Sand-und Staubwolken auf, als sie den sanft ansteigenden Hang emporritt. Sie wußte längst nicht mehr, wie viele solcher gleichförmiger Sanddünen sie schon überwunden hatte, seit sie vor zwei Tagen in die Wüste Gehran eingedrungen war. Hunderte sicher, vielleicht Tausende.
Sie hatte sie nicht gezählt. Als sie diesen Weg das erste Mal geritten war, vor zehn Jahren (waren es wirklich erst zehn Jahre? Es kam ihr länger vor. Während dieser Zeit war so viel geschehen, so unendlich viel, und doch so wenig...), da hatte sie geglaubt, sich daran gewöhnen zu können.
Aber das stimmte nicht. Die Gehran war etwas, an das man sich niemals gewöhnen konnte, weder sie noch irgendein anderes denkendes Wesen, das sie kannte. Sie war ein Ungeheuer, eine große, schweigende Bestie, die auf eine Unachtsamkeit lauerte, einen winzigen Fehler, irgendeine Nachlässigkeit, um dann sofort und erbarmungslos zuzuschlagen. Kaum einer von denen, die sich zu weit hineinwagten, kam je wieder heraus. Und Tally wußte, daß auch ihr - trotz allem - das gleiche Schicksal bevorstehen konnte, wenn sie auch nur einen Moment in ihrer Wachsamkeit nachließ.
Sie war in Schweiß gebadet, als sie den Hügelkamm erreichte und das Pferd mit einem harten Ruck am Zügel zum Stehen brachte. Auch sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie hätte es sich im Beisein ihrer beiden Leibwächter niemals anmerken lassen, aber es gab im Moment kaum etwas, was sie sich sehnlicher gewünscht hätte als einen Schluck eiskaltes Wasser und einen kühlen, schatti-gen Ort, an dem sie sich zum Schlafen niederlegen konnte.