Tally rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der Rechten über die Augen, blinzelte ein paarmal, um die Tränen fortzuzwinkern, und starrte konzentriert nach Norden.
Die Wüste schien vor ihren Augen zu verschwimmen, und die hitzegeschwängerte Luft und das gleichförmige Auf und Ab der Dünen gaukelte ihr die Illusion von Bewegung und Leben vor, wo nichts außer glühendem Sand und Öde waren.
Aber sie wußte genau, wonach sie zu suchen hatte, und nach einer Weile glaubte sie in nördlicher Richtung wirklich einen dünnen, verschwommenen Schatten wahrzunehmen. Erneut fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, aber das Bild wurde nicht klarer. Hitze und Erschöpfung begannen ihren Preis zu fordern. Trotzdem war sie sich sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Sie war diesen Weg zu oft geritten, um ihn noch zu verfehlen. Heute abend, spätestens beim nächsten Sonnenaufgang, würde sie da sein. (Und dann? Eine neue Enttäuschung? Nichts als ein weiteres Jahr voller Haß und vergeblicher Hoffnung?) Sie drehte sich halb im Sattel herum und sah zu den beiden Waga zurück. Hrhon hatte seinen Dolch mittlerweile ausgegraben und kletterte gerade ungeschickt auf den Rücken seines Tieres zurück. Daß die Hornbestie dabei in den beiden vorderen Beinpaaren einknickte, erleichterte ihm den Aufstieg nur unwesentlich. Das grünbraun geschuppte Reptilienwesen krabbelte wie eine zu groß geratene arthritische Kröte an der Flanke des Horntieres hinauf, wobei es Laute ausstieß, die an das Zischen eines leckenden Wasserkessels erinnerten.
Erneut stahl sich ein dünnes Lächeln in Tallys Mundwin-kel. Selbst auf sie wirkten die Waga manchmal wie tolpat-schige Gnome aus einem Kindermärchen. Nur, wer eine dieser Bestien einmal im Kampf erlebt hatte, wußte, wie falsch dieser Eindruck war. Aber es gab nicht sehr viele Menschen, die darüber berichten konnten.
Tally wartete geduldig, bis Hrhon wieder im Sattel und fest verschnürt war und die beiden Horntiere den Hügel hinaufgewalzt waren, - es gab keine andere Art, ihre Fortbewegungsweise auch nur annähernd zu beschreiben - dann lenkte sie ihr Pferd mit einer raschen Bewegung zurück in den Schatten der beiden Ungeheuer und sah zu Hrhon hinauf.
»Reizend, daß du schon fertig bist«, sagte sie. »Wenn es dem Herrn genehm ist, können wir jetzt vielleicht weiterreiten.«
Hrhon schien in seinem Sattel zusammenzuschrump-fen und wich ihrem Blick aus. Seine Hand schloß sich unwillkürlich um den Dolch, den er so mühsam aus dem Sand ausgegraben und wieder in seinen Gürtel geschoben hatte. Es wäre für Tally ein Leichtes gewesen, selbst von ihrem Pferd zu steigen und Hrhons Waffe zu holen
- und schneller wäre es auch noch gegangen. Aber der Gedanke war ihr nicht einmal gekommen. Nicht bei Wagas.
Sie wußte, daß sie sich blindlings auf die beiden Reptilienwesen verlassen konnte. Ihre beiden Leibwächter würden ohne Zögern für sie in den Tod gehen, wenn sie es verlangte. Aber Wagas waren ein eigenartiges Völkchen. Wo bei jedem anderen eine gesunde Kombination aus Strenge und Großmut angebracht war, da half bei ihnen nur unnachgiebige Härte.
Besser, man schlug einen Waga zehnmal zu oft als einmal zu wenig.
Sie ritten weiter. Die Sonne sank langsam tiefer, aber es wurde trotzdem nicht merklich kühler, und selbst, als die kurze Dämmerung hereinbrach und in ihrem Gefolge Dunkelheit wie ein großes schweigendes Tier über die Wüste kroch, schien noch immer eine Wolke unsichtbarer Hitze über dem Land zu liegen.
Als es vollends dunkel geworden war, begannen die beiden Horntiere zunehmend unruhiger zu werden, und Tally ritt ein Stück voraus, um nicht durch den zufälligen Schlag eines Schwanzes fünf Meter tief in den Sand hineingetrieben zu werden. Die Horntiere sahen schon bei Tage nicht besonders gut; nachts waren sie praktisch blind. Es kostete die beiden Wagas immer mehr Mühe, ihre Reittiere überhaupt zum Weitergehen zu bewegen.
Schließlich zog Tally die Zügel an und gab Hrhon und Essk das Zeichen zum Anhalten. Sie waren noch mindestens vier oder fünf Meilen von ihrem Ziel entfernt, und Tally wäre gerne noch weiter geritten, denn sie waren ihrem Ziel zu nahe, als daß der Gedanke an die dazwischenliegende Entfernung ihre Ungeduld noch merklich dämpfen konnte. Aber es hatte keinen Sinn, mehr von ihren Begleitern zu verlangen, als sie beim besten Willen zu geben imstande waren. Außerdem mußte sie am nächsten Morgen ausgeruht und bei Kräften sein. Einige der Werwesen waren noch immer aktiv, selbst nach all der Zeit, und sie würde jedes bißchen Kraft brauchen.
Während Hrhon und Essk umständlich aus den Sätteln stiegen und damit begannen, das Nachtlager vorzuberei-ten, ging Tally auf den Kamm der nächstgelegenen Düne hinauf. Hrhon wollte ihr folgen, aber sie scheuchte ihn mit einer unwilligen Handbewegung zurück. Sie wollte allein sein, wenigstens für eine Weile, allein mit sich und ihren Gedanken. Den Erinnerungen.
Erinnerungen, die sie immer wieder einholten, wenn sie hierher kam, als wären sie auf geheimnisvolle Weise in den braungelben Sandkörnern gespeichert, wie im Idiotengehirn eines sabbernden Greises. Sie kamen immer. Jahr für Jahr; jedesmal. Es waren keine schönen Erinnerungen, aber die Bilder hatten sich so tief in ihr Gedächtnis gebrannt, daß sie die Szene so plastisch und klar vor sich sah, als wäre es erst gestern geschehen, vor wenigen Augenblicken, gerade hinter der nächsten Düne, und nicht vor fünfzehn Jahren und am anderen Ende der Welt.
Sie setzte sich in den noch immer heißen Sand, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme um die Knie.
Irgendwo vor ihr lag der Turm, unsichtbar und verborgen in der Schwärze der Nacht, aber sie konnte ihn spüren. Wieder, wie jedesmal, wenn sie hierher kam, überkam sie dieses seltsame Gefühl; etwas, was sie nur hier verspürte und das sie nur schwer beschreiben konnte: eine sonderbare Mischung aus Resignation und Enttäuschung und Hoffnung, Hoffnung, die gegen jede Logik war und wohl eher Trotz als irgendeiner anderen Regung entsprang.
Für einen kurzen Moment glaubte sie den Turm fast zu sehen: einen mächtigen, gezackten Schatten, der sich in noch tieferem Schwarz vor der Farbe des Nachthimmels abzeichnete und wie ein mahnender Zeigefinger in die Unendlichkeit wies. Es war hier gewesen, wo sie ihren größten Sieg errungen hatte. Und ihre größte Niederlage.
Aber Tally war kein Mensch, der eine Niederlage akzep-tierte. Es hatte in ihrem Leben - in dem Leben, das sie seit fünfzehn Jahren führte, nicht in dem davor, aber das lag ohnehin so lange zurück, daß sie kaum mehr als verschwommene und wahrscheinlich falsche Erinnerungen daran hatte - nur zwei Dinge gegeben, vor denen sie sich gefürchtet hatte: Die Drachen, und den Tod, und vielleicht waren sie beide ohnehin ein und dasselbe. Die Drachen waren nicht hier, und manche - die meisten
- behaupteten, daß es sie gar nicht gäbe, und den Tod... nun, die Frist, die ihr noch blieb, bis sie sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen mußte, war noch lang, vorausgesetzt, daß ihr nichts Unerwartetes zustieß - wie ein vergifteter Pfeil zum Beispiel oder eine Schwertspitze. Aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn die Zeit dafür gekommen war.
Der Wind drehte sich für einen Augenblick und trug das dumpfe Grollen der Horntiere und ihren scharfen Raubtiergestank mit sich. Tally drehte nachdenklich den Kopf und sah zu den beiden Ungetümen zurück. Sie standen, blind und verängstigt, eng zusammengedrängt am jenseitigen Ende des Dünentales, aber sie wirkten selbst jetzt, nur als massige schwarze Schatten in der Nacht erkennbar, noch immer gewaltig und furchteinflö-