ßend.
Der Anblick brachte Tally für kurze Zeit in die Wirklichkeit zurück. Sie wurde sich wieder völlig der Tatsache bewußt, wo sie war: an einem der unwirtlichsten und auch wohl tödlichsten Flecken der Welt, einem Ort, der im Grunde aus nichts anderem als Leere bestand und gerade deshalb so gefährlich war. Abgesehen von einer kleinen Armee gab es nicht viel, was sie fürchten mußte, solange sie sich in Begleitung der beiden Waga und ihrer felsenfressenden Reittiere befand. Aber Durst und Hitze und Desorientierung waren etwas, wogegen reine Körperkraft herzlich wenig nutzte. Für einen ganz kurzen Moment wurde sie sich ihrer Lage wirklich bewußt, und für diesen Moment hatte sie Angst. Aber nicht für lange.
Jetzt, als sie ihrem Körper gestattete zu ruhen, griff die Müdigkeit auch nach ihrem Geist, aber es war eine angenehme, sehr wohltuende Müdigkeit, und sie wehrte sich nicht dagegen.
Wieder sah sie nach Norden, und wieder entstand vor ihrem inneren Auge das Bild des Turmes, wenn es auch von der Erinnerung verfälscht war, und Furcht und Haß ihn für sie größer und finsterer erscheinen ließen, als er war. Was sie allerdings durchaus realistisch sah - soweit man im Zusammenhang mit einem Gebilde wie dem Turm das Wort real überhaupt benutzen konnte, waren ihre Aussichten, mit dem Leben davonzukommen. Im Jahr zuvor war sie um ein Haar getötet worden, als sie versucht hatte, sich ihm zu nähern. Und wenn es eines gab, was sie über diese verfluchte Ruine im Herzen der Gehran wußte, dann, daß jeder Schritt auf sie zu doppelt so gefährlich wie der vorhergehende war.
Nein - sie konnte sich kein weiteres Versagen mehr leisten. Diesmal mußte es gelingen, wenn nicht alles, was sie in den letzten zehn Jahren erreicht hatte, umsonst gewesen sein sollte. Es war ihre größte Niederlage gewesen, aber sie spürte, daß es in ihrer Macht lag, sie in ihren größten Sieg umzuwandeln. Der Schlüssel dazu lag vor ihr, zum Greifen nahe. Sie hatte es bisher nur einfach nicht geschafft, ihn aufzuheben.
Diesmal mußte es gelingen. Sie spürte, daß ihr das Schicksal keine weitere Chance zugestehen würde.
Lange Zeit saß sie reglos auf dem Hügelkamm und starrte nach Norden, ehe sie endlich aufstand und zu Hrhon und Essk zurückging. Die beiden Wagas hatten ihr Zelt aufgebaut und ringsum einen flachen Sandwall aufgeschichtet, der Staubspinnen und Krell-Echsen zurückhalten würde, die dem Lager auf einem ihrer nächtlichen Raubzüge zu nahe kommen mochten. Daneben flackerte ein Feuer, über dem sich ein Bratspieß drehte. Der Duft des gebratenen Fleisches ließ Tally das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie war hungrig, und sie spürte erst jetzt, wie hungrig. Tagsüber machte es die Hitze beinahe unmöglich, zu essen, aber jetzt machte ihr Körper seine Bedürfnisse sehr nachhaltig geltend.
Sie setzte sich neben das Feuer, trank einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Flasche, die ihr Essk reichte, und zog ihr Messer aus dem Gürtel. Es war die einzige Waffe, die sie trug, und auch sie diente mehr der Zierde, und wenn überhaupt, dann nur dazu, gebratenes Fleisch zu schneiden, kein lebendes. Gegen eine Gefahr, der Hrhon und Essk nicht gewachsen waren, würden ihr auch Waffen nichts mehr nutzen.
Sie aß, trank noch mehr von dem schlecht schmeckenden Wasser, das noch aus der versandeten Quelle stammte, an der sie vor zwei Tagen vorbeigekommen waren, und befestigte die geleerte Wasserflasche sorgfältig wieder an ihrem Sattelzeug. Ihre Wasservorräte waren so gut wie erschöpft, aber beim Turm gab es eine Quelle, und das Wenige, was sie noch hatten, würde für den Rest des Weges reichen.
Eine Zeitlang blieb sie noch am Feuer sitzen und starrte in die lodernden Flammen. Dann kroch sie in ihr Zelt und streckte sich auf dem Lager aus Fellen und Decken aus, das die Waga für sie vorbereitet hatten. Aber sie lag noch lange mit offenen Augen in der Dunkelheit, ehe sie endlich Schlaf fand...
Sie hatte einen Alptraum, ohne sich hinterher daran zu erinnern, was sie eigentlich geträumt hatte; aber er war sehr realistisch gewesen, und selbst, als sie erwachte, glaubte sie sich für einen Moment noch in graue Spinnweben aus Furcht eingewoben und sah dunkle häßliche Dinge, die auf zu vielen Beinen auf sie zukrochen, mit kleinen, ruckhaften Bewegungen. Dann verschwand die Illusion, und zurück blieb ein überraschend schwacher Hauch von Furcht, der aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele emporwehte. Sie war in Schweiß gebadet. Ihr Herz schlug so rasch, daß es schmerzte, und sie zitterte am ganzen Leib.
Draußen wurden stampfende Schritte laut. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zuerst zurück und dann auseinander gerissen, und Essks ausdrucksloses Schildkrötengesicht erschien zwischen den Zelt-planen.
»Isss habe Eusss sssreien gehört, Herrin«, sagte sie zischelnd. »Wasss issst gesssehen?«
Tally starrte die Waga eine halbe Sekunde lang verwirrt an. Dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Es ist nichts«, sagte sie unwirsch. »Ein... böser Traum, mehr nicht. Du kannst wieder gehen.«
Die Waga schwieg, aber ihr Blick wanderte weiter mißtrauisch über den Zeltboden. Ihre gewaltigen Pranken waren halb geöffnet, als suche sie etwas, was sie packen und zerquetschen konnte.
»Es ist gut«, sagte Tally noch einmal, und etwas schärfer. »Geh!«
Essk zog sich hastig zurück, und Tally atmete erleichtert auf. Es hatte ihre gesamte Willenskraft beansprucht, nicht zu zittern und sich nichts von ihrem Schrecken anmerken zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Nicht vor den Wagas.
Aber der Traum war schlimm gewesen diesmal; schlimmer als sonst. Und vor allem eher. Wie immer beim ersten oder zweiten Mal hatte sie noch gewußt, daß sie träumte, anders als später, wenn sie dem Turm näher waren und sich die Erinnerungen mit der Wirklichkeit vermengten. Und trotzdem: es war schlimmer. Wie in einer bizarren Umkehr des zu Erwartenden wurden ihre Erinnerungen klarer, je mehr Zeit verging. Etwas grub und wühlte in ihr, und es legte die Erinnerung an längst Vergessenes rascher frei, als die Zeit sie verwischen konnte.
Sie ballte die Fäuste, spannte jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper bis zum Zerreißen an und atmete ein paarmal gezwungen tief ein und aus, dann schloß sie die Augen und lauschte gebannt in sich hinein. Aber da war nichts. Nichts als die jetzt rasch verblassende Erinnerung an den Traum und ein grauer Schatten von Furcht, der sich wie ein schleichendes Gift in ihrer Seele eingenistet hatte und nur ganz allmählich wieder wich.
Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont, als sie wenig später aus dem Zelt trat. Trotz der frühen Stunde war es bereits stickig und warm, und der Wind überschüttete das Lager mit einem beständigen Hagel winziger rotbrauner beißender Sandkörner.
Tally lief mit gesenktem Kopf zu ihrem Pferd hinüber, kramte die Sandmaske aus ihrem Gepäck und streifte sie hastig über. Das Atmen fiel ihr unter dem feinmaschi-gen, aber dicken Gewebe noch schwerer, aber der Himmel hatte im Westen eine trübgelbe, kränkliche Färbung angenommen, und der Wind trug mit dem Sand noch einen anderen Geruch heran. Er ließ sich nicht beschreiben, denn er entsprach nichts, was es anderswo auf der Welt gab: eine Mischung aus verbrannter Erde und hei-