»Reite!« schrie sie. »Reite um dein Leben!« Dann fuhr sie herum, schickte ein Stoßgebet zu sämtlichen Göttern, von denen sie je gehört hatte...
... und rannte geradewegs auf die heranrasende Hornbestie zu. Essk schrie gellend auf, als er erkannte, was Tally vorhatte. Noch einmal versuchte sie ihr Reittier herumzureißen, aber das Ungetüm reagierte auch jetzt nicht auf ihre verzweifelten Schreie und Hiebe.
Das Horntier wuchs groß und gigantisch über Tally hoch, füllte plötzlich einen ganzen Abschnitt des Himmels aus und wurde immer noch größer. Seine gigantischen Beine hämmerten mit unglaublicher Wucht auf den Wüstenboden und ließen Sand und Steine wie kleine tödliche Geschosse davonspritzen. Und es war schnell.
Unglaublich schnell.
Tally wich im allerletzten Moment zur Seite aus, brachte sich mit einem verzweifelten Satz außer Reichweite der wirbelnden Hufe, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und warf sich abermals herum. Ein Stück des Himmels, eine Tonne schwer, dicker als ihr Körper und mit armlangen Stacheln besetzt, zischte wie eine Sense dicht über ihr durch die Luft. Tallys Hände griffen nach oben, glitten ab, packten noch einmal zu und bekamen einen Sattelriemen zu fassen.
Mit aller Kraft packte sie zu. Ein gräßlicher Ruck schien ihr die Arme aus den Gelenken zu reißen, dann folgte ein vibrierender Schmerz, der bis in ihren Rücken jagte und dort explodierte, Lähmung und furchtbare Taubheit hinterlassend. Sie schrie, als sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten, aber der Sturm riß ihr die Laute von den Lippen und trug sie davon.
Keuchend, halb besinnungslos vor Schmerz und Angst, klammerte sie sich fest und kämpfte mit aller Macht darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Die Hornbestie preschte unbeeindruckt weiter, während Tally versuchte, sich an ihrer Flanke hochzuziehen und mit entsetzlicher Klarheit begriff, daß ihre Kräfte dazu nicht mehr reichten.
Hilflos wurde sie mitgeschleift. Ihre Beine waren blutig, die Stiefel halb zerfetzt, und alles, was unterhalb ihrer Knie war, bestand nur noch aus Schmerz. Wie durch einen dichten, blutgetränkten Nebel sah sie, wie sich Hrhon schwerfällig in den Sattel des Pferdes zog.
Das Tier bäumte sich unter seinem Gewicht auf, aber der Sturm und die panische Angst trieben es weiter.
Und dann war es vorbei.
Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war der Sturm fort. Der Himmel flammte noch immer in grellem Schwefelgelb, und wo die Wüste sein sollte, erhob sich noch immer eine schwarze, brodelnde Wand, aber das unerträgliche Heulen war verstummt, und die unsichtbaren Hämmer hörten auf, auf ihren Körper einzuschlagen. Die Hornbestie, wie ein gewaltiges lebendes Geschoß von ihrem eigenen Schwung vorwärts getragen, rannte noch hundert, zweihundert Schritt weiter und kam dann bebend und stampfend zum Stehen.
Tallys Kräfte versagten endgültig. Sie wollte ihren Halt loslassen, aber sie konnte es nicht, und als sie aufblickte, sah sie, daß Essk einen Teil ihrer Leibriemen zerrissen hatte und in fast grotesker Haltung schräg im Sattel hing, sich nur noch mit einer Hand haltend und mit der anderen ihre beiden Hände umklammernd, so fest, daß Blut zwischen ihren hornigen Fingern hervorquoll.
Für einen Moment verlor sie das Bewußtsein, denn das nächste, was sie spürte, war der Griff kalter, unmenschlich starker Hände, die sich fast behutsam unter ihren Körper schoben, sie wie ein Spielzeug in die Höhe hoben und ein Stückweit von der unruhig stam-pfenden Hornbestie forttrugen. Behutsam wurde sie in den Sand gelegt. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht: ihre Kehle war voller Sand. Sie hustete, drehte sich auf die Seite, als sie glaubte, sich erbrechen zu müssen, würgte aber nur ein paarmal trocken und krümmte sich im Sand. Ihr ganzer Körper war ein einziger, zuckender Schmerz. Ihre Hände waren von den beinharten Sattelriemen zerschnitten und von Essks kaum weniger harten Pranken gequetscht, die Haut an ihren Unterarmen war aufgerissen und blutig, wo sie an den Panzerplatten der Hornbestie entlanggescheuert war. Blut lief an ihren Armen herab und vermischte sich mit dem Schweiß und Schmutz auf ihrer Haut. Ihre Muskeln waren verkrampft und so hart, daß sie abermals vor Schmerz aufschrie, als sie versuchte, sich noch einmal zu bewegen.
»Ssstill. Isss hhhelfe Eusss«, zischelte eine Stimme an ihrem Ohr. Sie sah auf, blinzelte durch einen Schleier rosagefärbter Tränen und erkannte Hrhons flaches, dunkelgrün geschupptes Gesicht, das ausdruckslos auf sie herabblickte.
Tally raffte all ihre Kraft zusammen, versuchte sich in die Höhe zu stemmen und kam tatsächlich in eine halbwegs sitzende Position - freilich nur, um gleich darauf in Hrhons Arme zu sinken, der sie auffing, als sie zur Seite kippte. »Du verdammter... Idiot«, flüsterte sie mühsam. »Wegen deiner Dummheit wäre ich fast gestorben.
Geh mir... aus den Augen. Verschwinde, du... hirn-loses Flachgesicht.«
Natürlich verschwand Hrhon nicht. Aber er löste behutsam die Hände von ihren Schultern, ließ sie zurücksinken und schaufelte nach kurzem überlegen ein paar Handvoll Sand unter ihren Kopf, damit sie bequemer lag. Ein gigantischer Schatten wuchs über ihr auf, dann hörte sie, wie Essk dem Horntier einen scharfen Befehl zuschrie und die wenigen Riemen, die sie noch hielten, schlichtweg entzweiriß, um von seinem Rücken zu springen.
Hrhon hielt seine Gefährtin mit einem schrillen Zuruf zurück, deutete nach Westen und gestikulierte mit beiden Händen, wobei er einen Schwall heller, zischelnder Töne hören ließ, die er für eine Sprache halten mochte.
Essk antwortete im gleichen Dialekt, und plötzlich wurde Hrhons Stimme scharf und laut und befehlend.
Tally hatte Mühe, nicht schon wieder das Bewußtsein zu verlieren. Im gleichen Maße, in dem die Schmerzen in ihren Händen und Armen abklangen, begannen ihre Beine zu schmerzen; zuerst nur die Füße, dann, einer rasch weiter vorrückenden flammenden Linie folgend, die Waden und bis hinauf über die Knie. »Was... ist mit dem Sturm?« fragte sie mühsam. »Ist er vorbei?«
Hrhon versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuahmen; etwas, was ihm nur teilweise gelang, weil er keinen Hals hatte, den er hätte drehen können.
»Nhein«, zischelte er. »Er khommt sssurück. Esss issst nhur eine Phausssse. Whir sssind in Ghefahrrr.«
»Dann müssen wir... weiter«, stöhnte Tally mit zusammengebissenen Zähnen. »Der... Turm, Hrhon.
Schnell. Hilf mir auf... auf das Horntier!«
Aber wieder schüttelte der Waga nur Kopf und Schultern. »Kheine Ssseit mehrrr«, sagte er. »Esss issst nuhrrr eine Athempaussse. Der Sssturm wird kommen.
Sssehrrr ssslimm.«
Er wiederholte dieses absurde Kopf- und Schulter-schütteln, stand auf und fauchte einen Befehl, der Essk galt. Seine Gefährtin widersprach, aber Hrhon deutete wütend nach Westen und wiederholte seinen Befehl, und diesmal widersprach die Waga nicht mehr. Mit einem schrillen Schrei zwang sie das Horntier, auf der Stelle kehrt zu machen, und ritt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Tally stöhnte vor Schmerz, als Hrhon sie vorsichtig aufhob und hinter dem stachelbewehrten Giganten her-zustapfen begann. »Was hast du vor, du Narr?« keuchte sie. »Du läufst ja geradewegs auf den Sturm zu! Willst du uns umbringen?«