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»Das war deine Stadt, nicht wahr?« sagte die Fremde.

Das Mädchen nickte.

»Bist du... die einzige Überlebende?«

Wieder nickte das Mädchen. Es spürte, daß die Frau eine Antwort von ihm erwartete, aber es konnte nicht sprechen.

Vielleicht würde es nie wieder sprechen können.

»Und jetzt bist du traurig«, sagte die Fremde. Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung, leise und sachlich, und nur mit einer ganz sachten Spur von Mitleid. »Du bist traurig und hast Angst und bist verzweifelt und zornig, und du würdest am liebsten ein Schwert nehmen und dich auf die Suche nach denen machen, die für das alles verantwortlich sind. Aber das wird nicht gehen. Du bist ein Kind.«

Sie stand auf, als hätte sie damit alles gesagt, blickte einen Moment mit starrem Gesichtsausdruck zu der verkohlten Stadt hinauf und setzte sich dann neben dem Mädchen ins Gras.

»Setz dich, Kind«, sagte sie.

Das Mädchen gehorchte. Was sollte es anders tun? Es konnte nicht weglaufen, denn es gab nichts mehr, wohin es laufen konnte. Es hatte niemanden mehr. Vielleicht gehörte es jetzt dieser Frau, wie etwas, das sie am Wegesrand gefunden hatte.

Der Gedanke irritierte das Mädchen, aber er erschreckte es nicht sonderlich. Es war gut, jemandem zu gehören.

»Willst du mir nicht deinen Namen verraten, Kleines?«

fragte die Frau.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es hatte ein bißchen Angst, daß die Fremde darüber in Zorn geraten würde, aber sie lächelte bloß, lehnte sich ein wenig zurück und stützte ihr Körpergewicht mit den Ellbogen ab.

»Ich kann dich nur zu gut verstehen, mein Kind«, sagte sie leise, eigentlich mehr zu sich selbst gewandt. Ein sonderbar trauriges lächeln huschte über ihre Züge, aber das Mädchen glaubte nicht, daß es seine Bedeutung wirklich verstand.

»Ich habe noch Zeit«, sagte die Fremde plötzlich. »Wenn du willst, erzähle ich dir eine Geschichte.« Sie sah das Mädchen an, lächelte. »Willst du?«

Das Mädchen nickte.

1. KAPITEL - TALIANNA

~ 1 ~

Das Dorf lag in der Biegung des Flusses, ein Stück schwarzer Kohle, das von einem silber-blau-grün gefleckten Band zu zwei Dritteln umschlungen wurde und während der letzten Jahre begonnen hatte, in die einzige Richtung zu wuchern, die ihm blieb.

Das hieß - nicht ganz.

Ein paar Häuser, erbaut von besonders mutigen

- oder besonders dummen - Menschen, ragten ein Stück in den Fluß hinein, auf Stelzen stehend wie ver-schmorte fette Störche mit zu vielen Beinen oder wie steinerne Schwalbennester unter die Biegung der zerborstenen Brücke geklebt. Einstmals hatte es einen Namen gehabt, dieses stolze, reiche, verbrannte Dorf, das heißt, sogar mehrere: Manche hatten es Laybary genannt, ein Wort aus der Sprache der Ureinwohner dieses Teiles der Welt, die hiergewesen waren, ehe die Menschen kamen und dessen Bedeutung niemand kannte. Andere - spä-

ter - hatten es Grünau getauft: ein Name, der absolut nicht paßte, aber hübsch klang. Beide Namen waren im gleichen Maße verloren gegangen, in dem die Menschen hier am Fluß die Kraft zu entdecken begannen, die der große silberne Strom mit sich brachte, und sie nutzten; im gleichen Maße, in dem die strohgedeckten Hütten schweren, steinernen Häusern mit schwarzen Schiefer-dächern wichen, Dächern, über denen gewaltige rauchende Schlote die Geheimnisse verrieten, die unter ihnen schlummerten.

Als die Bewohner Lybarys oder Grünaus damit begannen, Eisen zu machen, war die Stadt häßlich geworden, zu häßlich für einen so wohlklingenden Namen wie Lybary oder gar Grünau - grün waren schon bald allenfalls die Abwässer, die aus den neuerdings kanalisierten Häusern in den Fluß strömten; denn ihre Bewohner schmolzen nicht nur Eisen und Stahl und nach und nach andere Legierungen, sondern aßen und tranken und atmeten - freilich ohne es zu wissen - auch ein gut Teil dessen, was eigentlich in ihren Schmelztiegeln sein sollte. Wenn sie es überhaupt wußten, scherten sie sich nicht darum; allenfalls wunderten sie sich vielleicht, daß die Alten im Dorf nicht mehr ganz so alt wurden wie früher, und daß es mehr Krankheiten gab. Aber die Stadt wurde reich, reich und häßlich und immer größer, und bald bekam sie einen neuen Namen: wer immer im Lande von ihr sprach, nannte sie Stahldorf, und irgendwann übernahmen ihre Einwohner diesen Namen, wenn auch nicht für lange.

Er war verbrannt.

Zusammen mit der Stadt.

In einer einzigen Nacht voller schlagender schwarzer Schwingen und gellender Schreie und Feuer, das vom Himmel regnete und tausendmal heißer war als die Glut der Essen unten auf der Erde, war er verkohlt, zu Asche und Staub und heißem Schlamm geworden, den der Fluß forttrug, das Werk von drei Generationen dahin in einer einzigen Nacht. Die großen Quader aus rostrotem Roheisen waren ein letztes Mal geschmolzen, so daß sie jetzt über großen Teilen des Ruinendorfes ein Leichentuch aus poröser Schlacke bildeten. Die Hoffnungen und Träume von Reichtum und Macht waren verdampft wie die Gehirne, die sie geträumt hatten, und das Gold, das überreichlich gegen scharfgeschliffenen Stahl getauscht worden war, war in den Händen seiner Besitzer weich geworden und zu Boden getropft wie schimmernde Tränen.

Zumindest hatte Stahldorf - das früher einmal Grü-

nau und noch früher Lybary geheißen hatte und das man morgen vielleicht Brandstadt nennen würde - ein Ende gefunden, das seinem kurzen Aufblühen angemessen gewesen war.

Die Vernichtung war vollkommen gewesen, eine schwarze Götterfaust, die mit der Nacht gekommen war und deren Finger weißglühende Narben in der Erde hinterließen. Das landeinwärts, dem offenen Teil der Flußschleife zugewandte Drittel der Stadt war vollkommen zerstört. Zertrümmert, verbrannt und pulverisiert

- vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge - bot es sich dar wie das flachgewalzte Innere eines Vulkanes.

Wo die geschmolzene Eisendecke gerissen und die bloße Erde sichtbar war, da war sie schwarz und schimmerte, zu Glas geworden.

Das zweite Drittel der Stadt bot einen vielleicht noch schlimmeren Anblick, denn die Zerstörung war hier nicht so vollkommen. Wo die Verheerung so total war, daß sie ihre eigenen Spuren verdeckte, war auch nichts mehr, vor dem man erschrecken konnte.

Hier schon. Ein paar Mauern hatten dem Feuersturm standgehalten, hier und da durch die Laune des Zufalls ein Balken, der wie der Finger eines Ertrinkenden aus einem schwarzen Sumpf aufragte, ein Lagerschuppen, dessen Eckpfeiler und Zwischendecken dem Gewicht von Eisenblöcken angemessen gewesen war und die dem Feuersturm standgehalten hatten, der Dach und Wände fortblies. Wie zum bösen Spott sogar ein Dach, auf dem noch die Hälfte eines Kamins stand, dessen Außenseite jetzt so schwarz war wie die innere. Oder ein schwarzes Etwas, das wie ein zusammengekauerter Mensch aussah, die Arme über den Kopf geschlagen, aber gänzlich mit Eisen bedeckt, wie eine schreckliche Skulptur.