»Da issst...«, sagte er zögernd, »noch etwasss.«
»So?« Tally legte den Kopf schief. »Was?«
Hrhon druckste herum, bis Tally ihn bei der Schulter ergriff und noch einmal fragte. »Was, Hrhon?«
»Ich ssseige esss Euch«, zischte Hrhon. »Kommt.«
Tally blickte in die Richtung, in der sein ausgestreckter Arm wies.
Sie sah erst jetzt, daß es unmittelbar neben der Tür des Treppenschachtes einen zweiten, etwas größeren Durchgang gab, hinter dem ebenfalls helles Tageslicht schimmerte. Fragend runzelte sie die Stirn, drang aber nicht weiter in den Waga, sondern stützte sich wieder auf seine und Essks Schultern und humpelte mit ihrer Hilfe auf den Ausgang zu. Die Tür führte in einen kurzen Gang, an dessen Ende ein rechteckiger Flecken brutal hellen Tageslichtes gloste. So schnell es die unsichtbaren Messer zuließen, die in ihren Beinen wühlten, durchquerte sie den Korridor und blickte neugierig ins Freie.
Der Gang führte auf einen gewaltigen, gut zwanzig Meter messenden Balkon hinaus, der wie ein Vogelnest an die Flanke des Bauwerks angeklebt war. Ein gefräßiger Riese hatte ein gutes Drittel und den allergrößten Teil des brusthohen Steingeländers abgebissen, und der übriggebliebene Rest war von einem Netzwerk von Rissen und Löchern durchzogen, aber immer noch stabil genug, ihr gemeinsames Gewicht zu tragen. Vom gegen-
überliegenden Ende des Balkons aus führte eine kühn geschwungene Steintreppe zur Flanke des eigentlichen Turmes hinauf. Und auf ihren untersten Stufen lag der eigentliche Grund für Hrhons Furcht.
Er hatte ungefähr die Größe eines zwölfjährigen Kindes, war schwarz wie die Nacht und mußte ein paar größenwahnsinnige Kakerlaken in seiner Ahnenreihe gehabt haben. Zwei seiner vier Hände umklammerten den Griff eines Schwertes, was darauf schließen ließ, daß sein Charakter ungefähr seinem Aussehen entsprochen hatte - bevor Hrhon ihm das Genick brach.
Daneben lag eine zweite, etwas kleinere Scheußlichkeit, die ein paar Arme weniger hatte, deren jetzt in anderthalb Metern Entfernung liegende Mandibeln dafür aber wohl selbst einem Waga Respekt einflößen mochte, wenn er nicht gerade Hrhon oder Essk hieß und das Leben seiner Herrin verteidigte.
»Hornköpfe?« murmelte Tally ungläubig. »Hier?« Sie blickte Hrhon an, starrte dann erneut auf die beiden toten Rieseninsekten hinab und versuchte vergeblich, eine halbwegs logische Erklärung für den unglaublichen Anblick zu finden. Einen Moment lang blickte sie hilflos auf den Todeskreis und die regelmäßigen schwarzen Löcher herab. Sie verwarf den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Es gab unter den Werwesen alle möglichen - und eine ganze Menge unmöglicher
- Kreaturen, aber keine Hornköpfe. Schon gar keine, die hier heraufkommen konnten.
»Sssie habhen unsss anghegriffen«, verteidigte sich Hrhon. »Whir mussten sssie töten. «
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Tally verwirrt - sie hätte das Gleiche gesagt, wenn Hrhon die beiden Kreaturen völlig grundlos getötet hätte, denn wenn es etwas auf der Welt gab, was sie beinahe so sehr haßte wie die Drachen, dann waren es Hornköpfe. »Aber wo sind sie hergekommen?«
Hrhon deutete auf die Treppe. »Ausss dem Thurm«, sagte er.
Tally starrte ihn an. »Aus dem Turm?«
Der Waga versuchte zu nicken. »Sssusssammen mit diessser dha«, sagte er. Und damit deutete er auf eine dritte, etwas größere Gestalt, die wie die beiden Hornköpfe auf den Stufen der Treppe zusammengesunken und ebenso tot war wie sie.
Aber es war kein Hornkopf. Sie war nicht in Chitin gekleidet, sondern in schwarzbraunes Leder. In ihrer Hand lag kein Schwert, sondern eine bizarr geformte Waffe, die fast wie eine bizarr geformte kleine Armbrust ohne Bogen aussah und wie Silber glänzte, Und ihr Gesicht war nicht die starre Panzerfratze eines Hornkopfes, so wenig wie ihre Augen die glitzernden Facetten-bündel eines Rieseninsektes waren, sondern die weit geöffneten, starren Augen eines allerhöchstens acht-zehnjährigen, sehr hübschen Mädchens.
Sie hatte ihre gerade zurückgewonnen Kräfte eindeutig überschätzt, denn was folgte, war ein abermaliger und gründlicher Zusammenbruch, und es dauerte drei volle Tage, bis sie sich so weit erholt hatte, den Weg zum Turm zu wagen.
Hrhon und Essk hatten ihr in dieser Zeit alles erzählt, was seit ihrem Eintreffen hier geschehen war; und nicht nur ein-, sondern mindestens ein dutzendmal. Sie hatten unglaubliches Glück gehabt, den Turm trotz des tobenden Sturmes zu erreichen, und Tallys erster Gedanke, daß sie ihr Hiersein den gleichen überkochenden Natur-gewalten verdankten, die sie fast umgebracht hätten, schien sich zu bestätigen: die beiden Wagas hatten weder von den entsetzlichen Werwesen noch von den tötenden Illusionen irgend etwas gesehen oder gespürt. Der Sandsturm, der sie auf den letzten zweihundertfünfzig Metern gepackt und wie bizarre Schlittschuhläufer auf einem See aus Glas direkt bis an den Fuß der Ruine geschoben hatte, hatte die tödliche Magie des Turmes besiegt.
Seine lebenden Bewohner nicht.
Die beiden Wagas hatten das schwarze Gebäude umkreist und eine schmale Treppe gefunden, die auf der windabgewandten Seite zu einem Eingang hinaufführte, und sie hatten sogar unbehelligt den geschützten Keller erreicht, in dem Tally drei Tage später aufgewacht war.
Aber der Sturm hatte kaum ein wenig in seinem Wüten nachgelassen, als der erste Hornkopf in ihrem Unterschlupf erschien - ein grünschimmernder Haufen zermalmter Chitinplatten, den Essk ihr gezeigt hatte, und dessen Aussehen beim besten Willen nicht mehr erkennen ließ, zu welcher der vielen verschiedenen Insekten-rassen er einmal gehört hatte. Er hatte Essk warnungslos angegriffen und war genauso warnungslos von ihr getö-
tet worden, aber nicht, ohne ihr einen sehr tiefen, noch immer nicht ganz verheilten Schnitt im Arm beizubrin-gen. Trotzdem hatte sein heimtückischer Angriff ihnen wahrscheinlich allen dreien das Leben gerettet; denn als seine beiden mordlustigen Kameraden und ihre menschliche Begleiterin einige Stunden später auftauchten, um nach dem vermißten Riesenetwas zu suchen, sahen sie sich unvermittelt zwei sehr vorsichtigen und wahrscheinlich höchst übellaunigen Wagas gegenüber. Das Ergebnis dieser Begegnung hatte Tally gesehen, draußen auf den ersten Stufen der Brücke.
Es tat Tally leid, daß auch das Mädchen getötet worden war. Nicht aus Menschlichkeit oder Pietät, denn die junge Frau gehörte ganz eindeutig zu ihren Feinden; aber sie hätte gerne mit ihr geredet. Es gab hunderttausend Fragen, auf die sie Antworten haben wollte, und sie hätte sie bekommen, freiwillig oder auf andere Weise; Tally war da nicht besonders wählerisch. Aber die Wagas hatten wohl keine andere Wahl gehabt, als auch sie zu töten. Essk hatte ihr das kopfgroße Loch gezeigt, das die sonderbare Waffe, die jetzt unter Tallys Gürtel steckte, in den massiven Stein der Wand geschlagen hatte.
Es war Abend, als sie wieder auf den halbzerstörten Balkon hinaustrat, eine gute Stunde vor Sonnenuntergang - was bedeutete, daß es noch immer heiß war, aber nicht mehr unerträglich.
Die schwarze, geländerlose Treppenbrücke, die die beiden ungleichen Gebäude miteinander verband, glänzte wie das Rückgrat eines absurden Riesentieres unter dem schräg einfallenden Rot der Abendsonne, und erst jetzt, beim zweiten Mal, sah Tally, wie lang sie war, und wie hoch. Der kühn geschwungene Bogen über-spannte eine Strecke von einer guten halben Meile, und sein höchster Punkt - der Eingang zum eigentlichen Turm - lag sicherlich hundertfünfzig Meter über dem glasierten Boden des Todeskreises.