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Sie hatte Dunkelheit erwartet, aber das Innere des Turmes - zumindest der winzige Ausschnitt, den sie erkennen konnte - war von mildem grünen Licht erfüllt, das ein bißchen mehr als Licht zu sein schien, denn Tally hatte ein schwer in Worte zu fassendes Empfinden von etwas Materiellem, in das sie eindrang, als sie durch die Tür schritt.

Ihr Herz hämmerte wie wild. Feiner, klebriger Schweiß bedeckte ihr Gesicht und ihre Handflächen. Jeder einzelne Nerv in ihr war bis zum Zerreißen gespannt. Ihre Augen waren weit und starr vor Anstrengung, den sonderbaren grünen Schimmer zu durchdringen. Tally war in diesem Moment nicht viel mehr als eine lebende Kampfmaschine, ein Ding aus fünfzehn Jahren aufge-spartem Haß und hochtrainierten Reflexen. Ganz gleich, wer oder was ihr in diesem Moment gegenübergetreten wäre, er oder es hätte diese Begegnung mit dem Leben bezahlt.

Aber sie begegnete niemandem, und ihr erster Schritt in den Turm hinein war nichts als eine Enttäuschung.

Tally hatte keine Vorstellung von dem gehabt, was sie antreffen würde - irgend etwas Gigantisches und Gefährliches vielleicht, und sicher etwas Magisches.

Aber als sie nach wenigen Schritten stehenblieb und sich umsah, fand sie sich in einer nicht besonders großen, annähernd würfelförmigen Kammer, vollkommen leer bis auf das unheimliche, fließende Licht und mit einer knöcheltiefen Staubschicht auf dem Boden. Verwirrt, aber immer noch auf alle nur denkbaren bösen Überraschungen gefaßt, drehte sie sich einmal um ihre Achse und sah sich genauer um, ohne indes mehr zu entdecken als beim ersten Mal. Die Kammer war leer. Das einzige, was sie identifizierte, war die Quelle des sonderbaren Lichtes: es waren die Wände und die Decke selbst, deren Stein die moosige Helligkeit ausstrahlte, wenn auch nicht überall. Hier und da gab es große, an Lepra erinnernde Flecken, an denen der Stein schwarz war, und auf dem Boden hatte der Staub das Leuchten erstickt.

Während Tally sich noch umsah, kniete Essk nieder und untersuchte die Fußspuren, die der Staub akribisch konserviert hatte. Es waren die Spuren von menschlichen Füßen, aber auch die kleinerer, mit dürren drahtigen Klauen versehener Insektenbeine. Sie führten in gerader Linie zu einer von drei verschlossenen Türen in der gegenüberliegenden Wand, und es waren die einzigen Spuren überhaupt. Das Mädchen und die zwei

- drei - Hornköpfe mußten die ersten gewesen sein, die diesen Ausgang seit sehr langer Zeit benutzt hatten.

Nun, dachte Tally spöttisch, sehr oft kam es wahrscheinlich auch nicht vor, daß ungebetene Besucher den Todes-schirm um den Turm durchbrachen und sich im Gesinde-haus einnisteten.

Sie wollte weitergehen, aber Hrhon hielt sie mit einer knappen Geste zurück und eilte an ihr vorbei. Diesmal widersprach Tally nicht. Schweigend sah sie zu, wie der Waga die beiden Türen inspizierte, zu denen keine Spuren führten, und vergeblich an den massiven Eisenplat-ten rüttelte, ehe er sich schließlich dem dritten Durchgang zuwandte und ihn ohne sichtliche Mühe aufschob.

Dahinter kam ein schmaler, von dem gleichen unheimlichen Licht erfüllter Gang zum Vorschein. Tallys Blick vermochte ihm nur ein knappes Dutzend Schritte zu folgen, denn er führte nicht nur leicht in die Höhe, sondern war auch sanft nach rechts gebogen, offenbar der Krümmung des Turmes folgend. Wenn zwischen ihm und der äußeren Begrenzung des Turmes nicht ein Hohlraum oder weitere, verborgene Räume lagen, dachte Tally, dann mußten die Wände des Turmes von einer enormen Dicke sein.

Abermals gebot sie Hrhon zurückzubleiben, trat mit klopfendem Herzen durch die Tür und in den Gang hinaus. Ein ganz leises Raunen trat an ihr Ohr, wie das Geräusch von Wind, aber unendlich weit entfernt, und diesmal war sie sich nicht ganz sicher, ob sie sich das Zittern des Bodens unter ihren Füßen wirklich nur einbildete.

Vor ihrem inneren Auge entstanden Visionen von aufschnappenden Falltüren, unter denen bodenlose Abgründe lauerten. Sie versuchte sie dorthin zurückzu-scheuchen, wo sie hergekommen waren, nahm die Hand von der fremden Waffe und zog statt dessen ihren Dolch aus dem Gürtel - ein Zahnstocher gegen einen Drachen.

Trotzdem fühlte sie sich spürbar wohler, als sie das glatte Eisen des Dolchgriffes in der Hand spürte.

~ 5 ~

Der Weg nahm kein Ende. Tally verlor ihr Zeitgefühl, irgendwo in einem der endlosen, nur ganz sanft gekrümmten und fast unmerklich ansteigenden Gänge.

Sie wußte nicht mehr zu sagen, ob es eine Stunde war, wenige Augenblicke, oder eine Ewigkeit, die sie durch den Turm gingen. Das dumpfe Rauschen und Brausen begleitete sie, und manchmal glaubte sie einen leisen, aber sehr mächtigen Rhythmus in diesem Geräusch zu erkennen. In diesen Augenblicken erinnerte es sie an Atemzüge, an das sehr langsame, mächtige Atmen von irgend etwas Gigantischem.

Natürlich war es nicht da. Der Gang war leer, nur von Staub und dem sonderbaren leuchtenden Bewuchs erfüllt. Die Wände strömten einen unangenehmen Geruch aus, und die Luft schmeckte nach altem Eisen.

Alle vier-, fünfhundert Schritte gelangten sie an eine Tür, als hätten die Erbauer dieses gewaltigen Turmes aus irgendeinem Grund dafür sorgen wollen, den Gang in möglichst viele voneinander unabhängige kleine Sektio-nen zu unterteilen.

Es gab auch noch andere Türen, die ausnahmslos auf der linken Stollenseite lange und offensichtlich in Räume hineinführten, die in die Wände des Turmes eingelassen waren, wie Luftblasen in Bernstein. Aber sie waren ausnahmslos verschlossen, und Tally schüttelte hastig den Kopf, als Hrhon sich erbot, eine davon aufzubrechen. Sie waren Eindringlinge und keine willkommenen Gäste.

Vielleicht war es besser, wenn sie nicht mehr Lärm machten, als unbedingt nötig war.

Dann fanden sie die zweite Tote.

Sie waren durch eine weitere Tür getreten, wie immer Hrhon als erster, gefolgt von Tally und Essk, die den Abschluß bildete, aber statt des erwarteten Schnecken-ganges erhob sich vor ihnen eine schier endlose, sehr steil in die Höhe führende Treppe.

Auf den untersten Stufen lag eine Frau.

Tally fuhr überrascht zusammen und wollte sich an Hrhron vorbeidrängen, aber der Waga schob sie einfach zurück, zischelte irgend etwas, das Tally nicht verstand, und war mit zwei, drei überraschend gehenden Schritten bei der reglosen Gestalt, um sie rasch, aber sehr gründlich zu untersuchen - etwas, das ganz und gar überflüssig war, wie Tally befand. Wenn sie jemals eine Tote gesehen hatte, dann diese. Trotzdem wartete sie geduldig, bis Hrhon sich mit einem zufriedenen Zischeln aufrichtete und ihr mit Gesten zu verstehen gab, daß keine Gefahr mehr bestand.

Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen, als sie selbst neben der Toten niederkniete. Die Frau war wesentlich älter als das tote Mädchen draußen auf der Brücke, alt genug, um ihre Mutter sein zu können. Ihr Haar, das sehr kurz geschnitten war, begann bereits grau zu werden, und ihr im Tode bleich gewordenes Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, ohne dadurch direkt häßlich zu wirken. In ihren erloschenen Augen schien noch ein Ausdruck ungläubigen Schreckens zu stehen.