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Ihre rechte Hand umklammerte die gleiche sonderbar geformte Waffe, wie sie Tally bei der Toten draußen gesehen und an sich genommen hatte. Der Leichnam verströmte einen ganz sachten, aber unangenehmen Geruch. Unter dem Kopf war ein häßlicher braunroter Fleck, ebenso wie auf der Stufe darüber, und der nächsten und übernächsten.

Tallys Blick folgte der eingetrockneten Blutspur, bis sie sich im grünen Dunst des Ganges verlor. Es war nicht sehr schwer zu erraten, was geschehen war: die Frau und das junge Mädchen draußen hatten offensichtlich zusam-mengehört, aber während das Mädchen und die Hornköpfe herausgekommen waren, um nach den unwillkommenen Besuchern zu sehen, war diese Frau zurück-gelaufen, um - ja, um was zu tun? dachte Tally. Instinktiv irrte ihr Blick zum oberen Ende der Treppe. Sie sah nur grünes Licht, in dem sich die Stufen wie in leuchtender Säure aufzulösen begannen. Nun, gleich wie - sie hatte es wohl ein wenig zu eilig gehabt, denn sie mußte auf der Treppe ausgeglitten sein und sich den Schädel eingeschlagen haben. Hätte es noch eines Beweises für diese Theorie bedurft, wäre es allein der Leichengeruch gewesen. Die Tote lag schon eine geraume Weile hier.

Sie stand auf, winkte Essk, an ihre Seite zu treten und setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe, aber wieder, hielt Hrhon sie zurück. »Vorssssicht«, zischelte er. »Esss können noch mehhhr da ssseinnn.«

»Unsinn«, sagte Tally unwillig. »Die beiden waren allein, Flachkopf! Wäre es anders, wären wir wohl kaum noch am Leben, oder?«

Hrhon widersprach nicht, aber Tally wußte selbst, daß ihre Worte wohl mehr ihrer eigenen Beruhigung galten.

Der Gedankengang mochte durchaus logisch sein - aber was war Logik in dieser Welt, die zur Hälfte von einem willkürlichen Schicksal und zur anderen Hälfte von Zauberei bestimmt wurde? Sie hatten keinerlei Beweise, daß am oberen Ende dieser Treppe nicht eine ganze Armee zangenbewehrter Hornköpfe auf sie wartete. Oder Schlimmeres. Aber es gab auch nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

»Dann lassst mich wenigssstensss vorausssgehennn«, sagte Hrhon.

Tally dachte einen Moment ernsthaft über seinen Vorschlag nach. Der Gedanke, einen lebenden Schutzschild aus Panzerplatten und Knochen vor sich zu haben, war verlockend - der, unter vierhundert Pfund der gleichen Panzerplatten und Knochen begraben zu werden, sollte Hrhon angegriffen werden und stürzen, weniger.

Sie schüttelte den Kopf, scheuchte den Waga mit einer befehlenden Geste zur Seite und ging los.

Die Treppe schien endlos zu sein. Schon nach wenigen Augenblicken begannen ihr Ende und die Tote in grü-

nem Dunst zu verschwinden, während die leuchtende Wand über Tally und den beiden Wagas im Tempo ihrer eigenen Schritte vor ihnen zurückwich. Es war ein unheimliches Gefühl, das Tally sehr nervös machte - sie sah nicht, wohin sie gingen, und in ihrem Kopf nistete sich der bösartige Gedanke ein, daß diese Treppe geradewegs in die Unendlichkeit führen würde und sie so lange laufen konnten, bis sie vor Erschöpfung und Durst einfach starben, ohne jemals irgendwo anzukommen.

Natürlich wußte sie auch, daß das Unsinn war, aber dieses Wissen nutzte ihr herzlich wenig. Es war enervie-rend, irgendwo hin zu gehen, ohne zu wissen, wo und was dieses umhin war.

Schließlich blieb sie stehen und sah nervös zu den beiden Wagas zurück. »Dieses Leuchten macht mich nervös«, gestand sie. »Es ist... unheimlich.«

Hrhon versuchte sein Schildkrötengesicht zu einem Lächeln zu verziehen, was natürlich mißlang. »Esss ist nichtsss Uuunheimlichesss«, sagte er. »Nhur leuchtende Ffflanzen. Esss gibt viele davon, da, wo wir herkommen. «

Tally blickte den Waga verwirrt an. Die Erklärung war so simpel und einleuchtend, daß sie sich fragte, warum, beim Schlund, sie noch nicht selbst darauf gekommen war - schließlich hatte sie oft genug von leuchtenden Pflanzen gehört, wenn sie auch noch keine gesehen hatte. Sie sollte sich angewöhnen, die Dinge nüchterner zu betrachten. Es konnte durchaus gefährlich werden, wenn sie mehr in dieses sonderbare Bauwerk hineinlas, als gut war.

Sie gingen weiter. Tally begann die Stufen zu zählen, die sie emporstieg, kam irgendwann aus dem Rhythmus und begann von vorne. Als sie zum zweiten Male bei dreihundert angekommen war, schälte sich über ihnen der wuchtige Umriß einer Tür aus dem grünen Dunst.

Anders als alle, durch die sie bisher gegangen waren, stand sie halb offen, und dahinter hörte das grüne Licht auf.

Tally ging schneller, blieb aber auf der vorletzten Stufe stehen und gab Hrhon nun doch ein Zeichen, vorauszu-gehen. Der Waga senkte kampflustig die Schultern, stürmte ohne viel Federlesens durch die Tür und polterte eine Weile in der Dunkelheit dahinter herum, ehe er zurückkam und auffordernd winkte.

»Allesss in Ohrdnuhng«, zischelte er.

Tally und Essk folgten ihm.

Sie fanden sich in einem großen, annähernd würfelförmigen Raum wieder, der bis auf den allgegenwärtigen Staub vollkommen leer war, und nicht ganz so dunkel, wie Tally im ersten Augenblick angenommen hatte.

Durch schmale, hoch unter der Decke angebrachte Schlitze sickerten gelbrote Streifen von Sonnenlicht herein. Jetzt erst fiel Tally auf, daß die Treppe in gerader Linie nach oben geführt hatte, nicht gekrümmt wie die Gänge zuvor. Ohne es zu merken, waren sie der äußeren Begrenzung der Turmwand näher gekommen.

Neugierig sah sie sich um. Nicht, daß es viel zu sehen gegeben hätte - der Boden war ein verwirrendes Muster von Spuren, und zehn Meter über ihren Köpfen wob das Sonnenlicht ein Netz aus flirrenden Rechtecken in die Luft, das war alles. Trotzdem verspürte Tally eine immer stärker werdende Erregung. Was immer das Geheimnis dieses Turmes war - wenn es eines gab -, sie näherten sich ihm.

Auch diesmal widersprach Tally nicht, als sich Hrhon an ihr vorbeischob und auf die offenstehende Tür am Ende der Kammer zustapfte. Der Waga bewegte sich sehr vorsichtig, noch langsamer und scheinbar behäbiger als gewohnt. Seine kurzen Arme pendelten lose neben dem massigen Leib, die vierfingrigen Hände waren zu Klauen geöffnet.

Ganz plötzlich verspürte Tally ein heftiges Gefühl von Sicherheit, diese beiden lebenden Kampfmaschinen in ihrer Nähe zu wissen. Es gab nicht viel, was einem zustoßen konnte, mit zwei ausgewachsenen Wagas als Leibwächtern - sah man von zangenbewehrten Hornköpfen und Waffen ab, die faustgroße Löcher in massiven Stein schlagen konnten, wie eine dünne böse Stimme hinter ihrer Stirn flüsterte.

Sie verscheuchte den Gedanken ärgerlich, aber ganz gelang es ihr nicht. Ihre Nervosität stieg. Vorhin, als sie zwischen den beiden Wagas dem gewundenen Gang gefolgt war, hatte sie fast so etwas wie Enttäuschung verspürt - nein, Ernüchterung. Nach zehn Jahren vergeblicher Anstrengungen und Mühe, zehn Jahren immer wieder aufs neue geschöpfter - und immer wieder aufs neue enttäuschter - Hoffnungen, war ihr plötzlich alles so profan erschienen. Das große Geheimnis, dessen Lösung sie ihr Leben gewidmet hatte, sollte nur aus einem leeren Turm bestehen? Aber dieses Gefühl war vergangen, im gleichen Moment, in dem sie die Tote gefunden hatten. Und jetzt begann allmählich etwas in ihr emporzukriechen, das sie auf sehr unangenehme Weise an Furcht erinnerte.

Vielleicht war es nur Erregung, die ganz normale Erregung, endlich am Ziel zu sein; vielleicht hatte sie auch einfach nur die Leistungsfähigkeit ihres Körpers überschätzt, denn schließlich war es noch nicht lange her, daß sie fast gestorben wäre, aber gleich, was es nun war