- der langgestreckte, vielfach gegliederte Leib, der entsetzliche dreieckige Schädel, die mächtigen Vorderläufe, das alles war unverkennbar.
»Du hättest sie nicht töten sollen«, sagte sie. »Sie hätte uns wertvolle Auskünfte geben können.« Aber der Tadel in der Stimme war nicht echt. Wie die beiden Wagas wußte sie nur zu genau, daß Hornköpfe durch absolut nichts auf der Welt zu irgend etwas zu zwingen waren, schon gar nicht durch Gewalt oder Folter, und weder Hrhon noch Essk reagierten auch in irgendeiner Weise auf ihre Worte. Als sie sich nach einer Weile aufrichtete und umdrehte, war Hrhon bereits verschwunden, während seine Gefährtin ein Stück vor und neben der Tür Aufstellung genommen hatte, den Kopf halb in den Panzer zurückgezogen und die Hände kampfbereit erhoben.
Aber es erfolgte kein weiterer Angriff mehr. Die Beterin war die letzte, tödliche Überraschung, die der Turm für sie bereitgehalten hatte - wenigstens für diesen Tag.
Hrhon kam schon nach wenigen Augenblicken zurück und machte ein beruhigendes Zeichen mit der Hand. Er bestand nicht einmal mehr darauf, vor ihr herzugehen, als sie durch die Tür trat.
Das erste, was ihr auffiel, war das Geräusch: das gleiche dumpfe Brausen und Rauschen, das sie den gesamten Weg hier herauf begleitet hatte, aber ungleich lauter und machtvoller, so mächtig, daß sie meinte, den Boden unter ihren Füßen in seinem Rhythmus vibrieren zu fühlen, und abermals an ein urgewaltiges Atmen denken mußte. Dann spürte sie den Luftzug, ganz sacht, wie das Streicheln einer kühlen Hand auf der Haut. Er kam von rechts, aus dem Turminneren, und als sie sich in diese Richtung wandte, sah sie einen ganz schwachen Lichtschimmer.
Behutsam bewegte sie sich darauf zu und gelangte an eine weitere nicht gänzlich geschlossene Tür. Ihre Finger zitterten, als sie die Hand danach ausstreckte und sie öffnete, obgleich kein Grund zur Furcht mehr bestand; denn Hrhon war vor ihr hiergewesen und hatte zweifellos auch den angrenzenden Raum gründlich nach Gefahren durchsucht.
Der Geruch verriet ihr, was sie erwartete, noch bevor sie die Tür gänzlich geöffnet und ihre Augen sich an das unerwartet helle Licht dahinter gewöhnt hatten.
Die Kammer war klein, leer bis auf ein paar Haufen halbverfaultes Stroh und einen übelriechenden Abortbe-hälter, und sie stank zum Erbrechen nach Hornköpfen.
Durch ein mannshohes, aber sehr schmales Fenster in der Wand fiel Tageslicht herein, und in der Ecke neben der Tür faulte irgend etwas vor sich hin, das sich Tally lieber nicht genauer besah, von dem sie aber stark annahm, daß es die Lebensmittelration der Kampfinsekten gewesen war. In einem eisernen Halter unterhalb des Fensters stak ein ganzes Sammelsurium der widerlich-sten Waffen, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte
- häßliche Dinge mit zu vielen Schneiden und gemein gebogenen Widerhaken, wie sie nur Hornköpfe zu handhaben wußten, ohne sich dabei selbst in Stücke zu schneiden (obwohl sie sich fragte, wozu, beim Schlund, ein Ding wie das, das Hrhon angegriffen hatte, wohl eine Waffe brauchte...), und durch eine zweite, etwas nied-rigere Tür in der gegenüberliegenden Wand fauchte ein brausender Windzug herein. Tally sah all das mit einem einzigen, raschen Blick, dann ging sie weiter, ehe der süßliche Insektengeruch ihr vollends den Magen umdrehen konnte, und betrat den angrenzenden Raum.
Überrascht blieb sie stehen.
Sie wußte nicht, was - oder ob überhaupt irgend etwas - sie erwartet hatte; aber auf jeden Fall nicht das.
Vor ihr lag ein hoher, sehr freundlich ausgestatteter Raum, dessen Wände aus dem allgegenwärtigen schwarzen Stein des Turmes bestanden, aber mit Vorhängen und Teppichen und da und dort sogar einem Bild dra-piert waren. Ein knöcheltiefer, sehr weicher Teppich bedeckte den Boden und nahm ihm seine Kälte und hier und da standen wenige, aber mit großem Geschmack ausgesuchte, Möbeclass="underline" ein Tisch, darum vier kleine geschnitzte Stühle mit halbhohen Lehnen, eine Art Diwan, auf dem seidene Kissen und Felldecken lagen, ein zierliches Schränkchen, hinter dessen gläsernen Türen Trinkgefäße und Teller säuberlich aufgestellt waren. Auch hier gab es eines jener großen, eigentümlich geformten Fenster, aber im Gegensatz zu dem im Quartier der Hornköpfe war es mit leicht gefärbtem Glas gefüllt, so daß zwar Licht, aber keine Kälte hereindringen konnte. Auf dem Tisch herrschte ein wenig Unordnung: einer der beiden Becher, die darauf standen, war umge-fallen, und sein Inhalt zu einem häßlichen klebrigen Fleck eingetrocknet; daneben stand ein Teller mit einer erst halb beendeten Mahlzeit, die bereits Schimmel ansetzte. Trotzdem verriet das Zimmer Tally sofort die Hand einer Frau, die es ausgestattet hatte. Genauer gesagt, zweier Frauen, die hier gelebt hatten.
Das dumpfe Brausen war noch immer zu hören, und der Luftzug war zum Sturm angewachsen, der mit ihrem Haar spielte und sie blinzeln ließ, als sie hineinsah. Wie in allen Räumen, die sie bisher durchquert hatte, gab es auch hier eine zweite Tür, genau in der gegenüberliegenden Seite; Tally vermutete, daß die Kammer auf die gleiche Weise wie der Schneckenhausgang angeordnet waren, nicht wie die Räume eines Hauses in willkürlicher Unordnung, sondern immer eine hinter der anderen, so daß eine Fortsetzung der nach oben führenden Spirale entstand. Aber sehr weit konnte sie nicht mehr führen, denn wenn ihr Zeitgefühl auch längst durcheinandergeraten war, so wußte sie doch, daß sie die Spitze der steinernen Riesennadel fast erreicht haben mußten.
Der Wind leitete sie, als sie den Raum durchquerte.
Das Zimmer dahinter ähnelte dem ersten, nur daß es ein wenig unordentlicher war und einer der beiden Frauen als Schlafgemach gedient haben mußte, denn es gab ein großes, mit Seide bezogenes Bett und einen niedrigen Schrank, dessen Türen offen standen, so daß sie erkennen konnte, daß er Kleider enthielt. Aber der Windzug kam nun nicht mehr von vorne, obgleich es dort eine weitere Tür gab, sondern bauschte einen schweren blauen Samtvorhang, der den größten Teil der rechts liegenden Wand einnahm.
Tally runzelte verwundert die Stirn. Wenn sie nun nicht auch noch ihr Orientierungsvermögen verloren hatte, dann führte der Weg nach rechts tiefer in den Turm hinein - wo um alles in der Welt kam dieser Sturmwind her?
Sie hob die Hand, um den Vorhang kurzerhand herunter zu reißen, besann sich dann aber eines Besseren und schob ihn beinahe vorsichtig zur Seite.
Grelles Sonnenlicht blendete sie. Sie hob die Hand, blinzelte, senkte ein wenig den Kopf und trat mit einem raschen Schritt vollends durch den Vorhang hindurch.
Der Sturm schlug mit eisigen Krallen auf ihr Gesicht ein und trieb ihr die Tränen in die Augen. Das Rauschen des Windes steigerte sich zu einem ungeheuren Toben und Lärmen. Unter ihren Füßen war plötzlich kein Teppich mehr, sondern wieder harter, ganz sacht vibrierender schwarzer Stein. Wenige Schritte vor ihr erhob sich eine schmiedeeiserne Brüstung. Tally begriff plötzlich, daß sie sich nicht mehr auf festem Boden, sondern auf einem schmalen Balkon befand.
Und darunter gähnte das Nichts.
Vielleicht war es ganz gut, daß ihr die ungewohnte Helligkeit im ersten Moment die Tränen in die Augen trieb, denn so blieb ihr ein wenig Zeit, sich an den unglaublichen Anblick zu gewöhnen. Trotzdem dauerte es lange, bis sie wirklich begriff.
Sie befand sich dicht unterhalb der Turmspitze, und sie konnte dies mit solcher Sicherheit sagen, weil es diese Spitze nicht gab: vielleicht fünfzig Meter über ihr hörte der Turm einfach auf, einer ungleichmäßigen, schrägen Linie folgend, die bewies, daß dieses Ende nicht so gebaut, sondern gewaltsam abgebrochen war. Das grelle Licht der Wüstensonne strömte ungehindert in den Turm, und was es enthüllte, ließ Tallys Atem stocken, und nicht nur im übertragenem, sondern im höchst realen Sinne des Wortes.