Der Turm war leer, und im Grunde war er nicht viel mehr als eine gewaltige, sich nach oben hin verjüngende Röhre, eine Meile hoch und dreimal so tief in die Erde hinabreichend, ehe sie sich im Dunst der Entfernung verlor. Der Balkon, auf dem sie stand, gehörte zu einem ungleichmäßig geformten, steinernen Wulst, der wie ein Schwalbennest an ihre innere Wandung geklebt war und sich auch noch ein Stück nach oben hin fortsetzte, ehe er in einem Wust von zermalmtem, halb geschmolzenem Stein endete.
Tallys Gedanken überschlugen sich. Sie verstand nicht, was sie sah, und noch viel weniger verstand sie, welchen Sinn dieses unglaubliche Ding um alles in der Welt haben sollte. Ein Gefühl dumpfer Enttäuschung begann in ihr zu erwachen und wurde allmählich stärker.
Sollte sie wirklich die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens einzig dazu geopfert haben, dies hier zu finden?
Verstört sah sie nach rechts und links, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, die ihr das Sonnenlicht hineingetrieben hatte, und trat näher an die eiserne Brüstung heran. Der Sturm zerrte mit Urgewalt an ihrem Haar und ihren Schultern, als sie sich darüber beugte und in die Tiefe sah, und im ersten Moment wurde ihr schwindelig; denn der Abgrund unter ihr war im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos. Ihr allererster Eindruck war richtig gewesen: der hohle Turm ragte tief, unendlich tief in den Wüstenboden hinein. Vielleicht war er auch nur der Zugang zu einer gewaltigen Höhle, die sich unter dem erstarrten Sandmeer der Gehran erstreckte. Aber sie verstand noch immer nicht, welchem Zweck er diente.
Tally schloß für einen Moment die Augen, versuchte an gar nichts zu denken und blickte noch einmal in die Tiefe.
Die Innenwand des Turmes war nicht so glatt, wie sie im ersten Moment geglaubt hatte - es gab zahllose unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Auswüchse, und mehrere davon waren mit Balkonen der gleichen Art versehen wie dem, auf dem sie selbst stand.
Zwischen ihnen spannten sich schwarze Lavawülste wie steinerne Adern - die Schneckenhausgänge, die in scheinbar willkürlichem Hin und Her nach oben und unten führten und sich hier und da berührten, sich aber nicht direkt zu kreuzen schienen; denn wo sie zusam-mentrafen, krochen sie wie steinerne Würme übereinander und bildeten manchmal dicke, irgendwie krankhaft wirkende Wülste. Wie Geschwüre auf der Innenseite einer ungeheuerlichen Ader, dachte Tally.
Überhaupt war dies von allem der stärkste Eindruck: obwohl sie den harten Stein unter ihren Füßen sah und stundenlang darübergeschritten war, wirkte nichts hier künstlich, nichts sah aus, als wäre es irgendwie gemacht worden. Das ganze gigantische Bauwerk wirkte wie gewachsen. Selbst die eiserne Brüstung, auf der sie lehnte, vermochte diesen Eindruck nicht zu stören.
Aber was war es? Was...
Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb.
Es war, als träte sie ein zweites Mal auf den Balkon hinaus, aber diesmal mit offenen, sehenden Augen. Mit einem Male war alles ganz klar, ergab einen Sinn - den einzigen Sinn, den es überhaupt geben konnte. Und mit einem Male schien ihr jeder Quadratzentimeter ihrer Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien: dieser gigantische, leere Turm, selbst hier oben an seiner eng-sten Stelle noch Hunderte von Metern messend, die ungeheuerliche Tiefe, aus der ein Luftstrom wie ein nie endender Orkan emporbrauste, dieser einsamste aller Flecken, den es auf der Welt gab, der vielfach gestaffelte Todeskreis, der ihn umgab, dies alles konnte nur eine einzige Erklärung haben.
Und sie wußte sie, im gleichen Moment, in dem sie den Sturm, der aus der Erde emporbrauste, zum ersten Male bewußt wahrnahm. Und den Gestank, den er mit sich brachte.
Drachengestank.
Sie blieb länger als eine Stunde auf dem kleinen Balkon am Rande des Nichts stehen, ohne es überhaupt zu merken. Sie war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne daß sie imstande war, ihren Fluß zu ändern, und sie wußte hinterher nicht mehr, was sie nun wirklich gedacht hatte, in all dieser Zeit. Tally konnte nicht in Worte fassen, was sie spürte, weil es etwas Neues war, etwas, wofür sie keine Worte hatte, eine Mischung zwischen Entsetzen und Schrecken und Erleichterung und Schmerz und anderen, fremden Gefühlen. Sie war enttäuscht, so enttäuscht und - ja: gedemütigt - wie niemals zuvor in ihrem Leben, und sie hatte allen Grund dazu. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der das eigentlich Unmögliche vollbracht hatte, nur um festzustellen, daß es nichts war: sie hatte einen Berg erstiegen, der als unbesteigbar galt, und auf dem Gipfel angelangt erkannt, daß es in Wahrheit nichts als ein kleiner Hügel war, hinter dem sich das eigentliche Gebirge erhob.
Wozu das alles? dachte sie matt. Bitterkeit begann in ihr aufzusteigen, und für einen Moment kam ihr der Gedanke, daß all dies, die Wüste mit ihren tausendfältigen Fallen und Gefahren, der Turm mit seinen tödlichen Wächtern, nur zu dem einen Zweck errichtet worden sei, Narren wie ihr vor Augen zu führen, wie dumm und machtlos sie waren.
Aber natürlich war dies vollkommener Unsinn. Tatsache war, daß dieser Turm nichts als der erste Schritt war, die erste Stufe einer Treppe, deren Länge sie nicht einmal zu ahnen imstande war, und an deren Ende das wahre Geheimnis der Drachenreiterinnen wartete.
Der Enttäuschung folgte ein Gefühl der Leere, aber es hielt nicht lange an; denn Tally wäre nicht Tally gewesen, hätte sie nicht gleichzeitig eine noch dumpfe, aber rasch wachsende Entschlossenheit gespürt, auch die nächste Stufe des Geheimnisses zu erklimmen, und die nächste und nächste und nächste, für den Rest ihres Lebens, wenn es sein mußte.
Irgendwie ernüchterte sie dieser Gedanke. Der Schmerz in ihrem Inneren sank zu einem dumpfen Druck herab, und mit einem Male wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewußt: sie spürte den eisigen Wind, der ihre Finger und ihr Gesicht allmählich taub werden ließ, und das Sengen der Sonne, die ihre nackten Schultern verbrannte. Nach einem letzten, sehr langen Blick in den Abgrund wandte sie sich um und trat in die Kammer zurück.
Die beiden Wagas erwarteten sie. Hrhon hatte es sich auf dem Teppich bequem gemacht und Kopf und Glieder in seinen Panzer zurückgezogen, um auf die typische Art seines Volkes zu schlafen, während Essk unstet auf und ab ging. Tally sah, daß sie den Raum durchsucht hatte, auf die sehr direkte und sehr wirksame Weise, auf die Wagas alles tun: das Zimmer war vollkommen verwü-
stet. Aber obwohl der Anblick die Frau in ihr ärgerte, beruhigte er die Kriegerin in ihr: sie konnte jetzt sicher sein, daß es hier keine verborgenen Fallen mehr gab.
Sie bezweifelte allerdings auch, daß es jemals welche gegeben hatte. Die beiden Frauen und ihre chitintragen-den Wächter mußten sich vollkommen sicher gefühlt haben. Wäre es nicht so gewesen, hätten sie und die beiden Wagas den Turm niemals lebend erreicht. Dieser Turm war allein durch seine Konstruktion schon eine Festung, die zwei oder drei beherzte Kämpfer gegen ein ganzes Heer halten konnten, wenn es sein mußte.