Tally fühlte sich sonderbar bei dem Gedanken, daß Hrhon, Essk und sie wahrscheinlich die ersten lebenden Wesen waren, die diesen Turm gegen den Willen seiner Erbauer betreten hatten. Es war kein Triumph in diesem Gefühl - sie hatten Glück gehabt, das war alles, eine unglaubliche Kombination von Zufall, Glück und sicherlich auch Mut und Kraft der Waga.
»Wasss sssollen wir thuhn?« drang Essks Stimme in ihre Gedanken. »Gehen wir sssurühck?«
Tally überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf, schenkte der Waga ein müdes Lächeln und ließ sich mit einem erschöpften Seufzer auf dem nieder, was Essk vom Bett übriggelassen hatte. »Nein«, sagte sie.
»Wir bleiben.«
Essk widersprach nicht, und Tally glaubte sogar so etwas wie Zustimmung auf ihrem starren Schildkrötengesicht zu erkennen. Sie begriff, daß selbst die beiden Waga an den Grenzen ihrer Kraft angelangt waren. Sie hatten die Hauptlast der Mühen und Anstrengungen getragen, die die letzten Tage gebracht hatten. Essks Frage war wohl nur rhetorischer Natur gewesen. Es war zu spät, noch an diesem Tage zurückzugehen; denn obwohl der Himmel über dem Turm noch immer in Flammen zu stehen schien, würde die Sonne in einer Stunde untergehen.
Überdies gab es keinen Grund, überhaupt zurückzugehen. Sie konnten die Nacht ebensogut hier verbringen wie in dem Keller im Nebengebäude, und etwas in Tally weigerte sich auch, jetzt einfach kehrtzumachen, ohne das Geheimnis des Turmes wirklich gelöst zu haben.
Müde ließ sie sich in die seidenen Kissen zurücksinken, schloß die Augen und gähnte herzhaft. Ihre Beine schienen mit einem Male mit Blei gefüllt zu sein, und jetzt, als die Anspannung von ihr abzufallen begann, machten sich Müdigkeit und Schwäche auf wohltuende Weise in ihr breit.
»Ihr habt alles gründlich durchsucht?« murmelte sie, schon halb eingeschlafen.
»Sssicher«, zischelte Essk. »Ihr könnt beruuuhigt ssslafen, Herrin.«
Und genau das tat Tally auch.
Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe mehr gestellt. Nach zehn Jahren hatte das Schicksal endlich ein Einsehen mit ihr; ja, sie mußte nicht einmal mehr zehn Tage warten, sondern wenig mehr als einen und ein paar Stunden. Aber natürlich wußte sie das nicht, als sie am nächsten Morgen erwachte, und als Essk sie beinahe sanft an der Schulter berührte und schüttelte - zumindest sanft für die Begriffe einer Waga -, fuhr sie mit einer hastigen Bewegung hoch und griff ganz instinktiv nach ihrem Schwert. Erst dann begriff sie vollends, wo sie war. Unwillig schlug sie Essks Hand beiseite, setzte sich mit einem Ruck auf und verlor in den weichen Kissen prompt die Balance. Essk machte eine Bewegung, als wollte sie sie auffangen, besann sich im letzten Moment eines Besseren und zog die Hand hastig wieder zurück; möglicherweise aus Furcht, sie zu verlieren.
Tally schenkte ihr einen bösem Blick, richtete sich mühsam auf und sah sich nach irgend etwas um, worauf sie ihren Zorn entladen konnte.
Sie fand es in Gestalt des zweiten Waga, der in diesem Augenblick durch die turmaufwärts führende Tür her-einkam, beide Arme mit Waffen und allerlei Gerätschaften beladen und hörbar schnaufend vor Anstrengung
- was allerdings kaum auf das Gewicht seiner Last, sondern wohl eher auf die Treppenstufen zurückzuführen war, die er sich auf seinen unbeholfenen Beinen hinauf- und wieder hinabgequält hatte.
Normalerweise hätte der Anblick Tally amüsiert. Aber sie hatte auf den ungewohnt weichen Kissen schlecht geschlafen, und natürlich hatte sie geträumt, und nicht unbedingt etwas, woran sie sich gerne erinnerte.
»Was, beim Schlund, treibst du da, du Fischgesicht?«
fauchte sie. »Wer hat dir befohlen, den Turm zu plündern?«
Hrhon sah sie eindeutig betroffen an, lud seine Last auf das kleine Tischchen neben der Tür ab und breitete verlegen die Arme aus. »Isss dachte... «, begann er, wurde aber sofort von Tally unterbrochen:
»Genau das ist dein Fehler, Hrhon«, sagte sie übellaunig. »Ist dir schon einmal aufgefallen, daß jeder Satz, den du mit den Worten: ich dachte beginnst, in einer Katastrophe endet?«
Hrhon war klug genug, nicht darauf zu antworten, und Tally wischte sich mit einer fahrigen Geste endgültig den letzten Schlaf aus den Augen und trat an ihm vorbei an den Tisch, um seine Beute zu begutachten.
Es handelte sich zum allergrößten Teil um Waffen
- Schwerter, Dolche, Bögen und ein paar Tally unbekannte, aber sehr unangenehm aussehende Dinge, die sie nicht einmal in die Hand hätte nehmen können, ohne Gefahr zu laufen, ein paar Finger zu verlieren. Aber es gab auch zwei der kleineren, fremdartigen Waffen, wie sie die beiden toten Frauen getragen hatten, und etwas, das wie ein Blasrohr aussah, dessen hinteres Ende mit einer Stütze versehen war, welche sich genau ihrer Schulter anpaßte. Tally dachte an das kopfgroße Loch, das die Waffe der Fremden unten im Nebenhaus in die Mauer geschlagen hatte, und legte das Rohr vorsichtig wieder aus der Hand.
»Woher hast du das alles?« fragte sie.
»Esss gibt eine Waffenkammer«, antwortete Hrhon.
»Dha issst nhoch mehrrr.«
Seine Worte überraschten Tally nicht sehr. Auch, wenn nur ein winziger Teil wirklich bewohnbar war
- der Turm war gigantisch; groß genug, Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen zu beherbergen
- warum also sollte es nicht auch Waffen für Hunderte von Menschen geben? Aber sie erschreckten sie; denn es erschien ihr ziemlich sinnlos, all diese Waffen hier anzuhäufen, wenn sie niemals benutzt werden sollten.
Möglicherweise - nur möglicherweise, aber allein der Gedanke ließ sie frösteln - war es wirklich nur ein Zufall, daß sie den Turm so leer vorgefunden hatten.
Und möglicherweise befanden sich die Besitzer all dieser stechenden und schneidenden Scheußlichkeiten bereits auf dem Weg hierher...
Sie verscheuchte den Gedanken, drehte sich mit einem Ruck vom Tisch weg und befahl Hrhon, ihr die Waffenkammer zu zeigen.
Der Waga hatte nicht übertrieben - die Waffenkammer war groß genug, eine ganze Armee auszurüsten, und nur sehr wenig von dem, was sie enthielt, war in schlechtem Zustand. Natürlich war es möglich, daß die beiden Frauen oder die Hornköpfe diese Arbeit getan hatten, schon um sich die Zeit zu vertreiben, aber das hielt Tally für nicht sehr wahrscheinlich. Aber sie behielt ihre Befürchtungen - zumindest im Moment noch - für sich, und befahl Hrhon knapp, ihr den Rest der Zimmer zu zeigen, die die beiden Frauen und ihre Kampfinsekten bewohnt hatten.
Es waren mehr, als sie erwartet hatte; im Inneren des steinernen Schwalbennestes verbarg sich ein wahres Labyrinth von Räumen - drei, vielleicht vier Dutzend Kammern unterschiedlicher Größe, von denen die meisten leer standen und seit endlosen Jahren nicht mehr benutzt worden waren, wie die dicke Staubschicht auf dem Boden bewies, aber der verbliebene Rest war noch immer gewaltig, und er war mit einem Luxus und Überfluß ausgestattet, wie ihn Tally nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Sie wurde es bald müde, all die Reichtümer und Kostbarkeiten zu zählen, die sie sah, und die fremdartigen Dinge und Gerätschaften zu bestaunen, die sie niemals zuvor erblickt hatte und deren Sinn ihr verborgen blieb. Nur eines war ihr schon nach kurzer Zeit klar: die beiden Frauen hatten wie die Könige hier gelebt