Im letzten Drittel der Stadt schließlich standen Ruinen, grau überpudert mit Staub und Asche. Hier und da brannte es noch, und hier und da ragte ein Knochen aus der heißen Asche. Die dem Land zugewandten Teile der Stadt hatten die schlimmste Wut des Feuersturms gebrochen, der mit den tief heranrasenden Bestien aus der Nacht gekommen war.
Hier war das Feuer nur noch Feuer gewesen, keine Höllenglut mehr, die Eisen verdampfte und Stahl zum Schmelzen brachte. Die Bewohner dieses Stadtteils - wie durch eine der kleinen Gehässigkeiten, die das Schicksal so gerne und reichlich verteilte, waren es die reichsten und angesehensten Bürger Stahldorfes gewesen - hatten nicht das Glück gehabt, nicht mehr zu spüren. Sie hatten das Rauschen der gewaltigen schwarzen Schwingen gehört und die Flammen gesehen und die Schreie vernommen, die bald darauf zu ihren eigenen geworden waren. Der Damm aus Häusern, der die Springflut aus Feuer und Tod gebrochen hatte, hatte ihnen ein qualvolleres Ende beschert. Sie hatten ihr Sterben miterlebt.
Manche hatten sogar noch Zeit gefunden, aus ihren Häusern zu rennen und in den Fluß zu springen, Rettung erhoffend in der kochenden Flut. Ihre Leichen mußten jetzt, als die Sonne aufging, schon Meilen entfernt sein.
Es gab auch Überlebende: in den Kellern, in den toten Winkeln unter schwarz gewordenen Fensteröffnungen hinter mächtigen Blöcken von Roheisen und Stahl. Ein paar von ihnen hatten sogar noch die Kraft, nach jemandem zu schreien, der ein Messer nehmen und sie von ihren Leiden erlösen möge. Aber nicht sehr viele.
Das war es, was Talianna sah, als sie an diesem Morgen aus dem Wald trat und auf ihre Heimatstadt herabblickte.
Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie blickte auf. Für einen Moment klammerte sie sich an den wahnsinnigen Gedanken, daß es ihre Mutter sein könne, die wie sie ein Versteck im Wald gefunden hatte und nun kam, um ihr zu sagen, daß alles in Ordnung und sie am Leben sei.
Aber es war nicht das schmale, vom Alter und Eisen-staub grau gewordene Gesicht ihrer Mutter, in das sie blickte, es waren Gedelfis verhärmte Züge, eingerahmt von weißem Haar, in dem jetzt Schmutz und Tannen-grün und ein Rest von dem Morast klebte, in den er gestürzt war, als er hinter ihr aus dem Stollen gekrochen war.
Nur seine Augen - das waren nicht die blinden Augen Gedelfis, die erloschen waren, ehe die Taliannas zum erstenmal einen Sonnenaufgang sahen, sondern die ihrer Mutter, dunkel und groß und von winzigen Fältchen umgeben, die davon kamen, daß sie so gerne lachte.
Aber nur für einen Augenblick; dann wurden sie wieder zu den weißen matten Kugeln, die in Gedelfis Gesicht glänzten. Und als Talianna den Kopf wandte und seine Hand anblickte, die schwer und narbig auf ihrer Schulter lag, sah sie, daß auch seine Fingernägel blutig waren.
»Weine ruhig, Kind«, sagte der alte Mann - es klang wie die Stimme ihrer Mutter, aber mit der klaren, fast überpräzisen Aussprache, die sie von Gedelfi kannte.
»Weine ruhig«, sagte er noch einmal. »Es wird dir helfen.«
Talianna weinte nicht.
Aber nach einer Weile wandte sie sich gehorsam um, dem sanften Druck seiner alten Hand folgend, und ging neben ihm her den Hang hinab, über die mit Asche bedeckte Wiese und auf die in den Boden eingeschmol-zene Grenze der Stadt zu, ein blinder Mann und ein Kind, das ihn führte.
Aber in diesem Moment sah das Kind so wenig von dem Schrecken, der sich vor ihnen ausbreitete, wie er.
Sie sah Drachenschwingen, die die Nacht peitschten.
Die Asche war noch warm, und der Boden darunter so heiß, daß sie es durch die dünnen Sohlen der Sandalen hindurch spüren konnte. Ihre Schritte ließen kleine graue Staubwölkchen wie winzige Explosionen hochwirbeln, und in der Luft lag ein Geruch, den das Mädchen niemals im Leben wieder vollkommen vergessen sollte.
Sie hatte den am schlimmsten zerstörten Teil der Stadt umgangen, nicht aus Furcht oder Pietät, sondern einfach der praktischen Überlegung, daß der alte Mann an ihrer Seite auf dem zu spiegelglattem Glas erstarrten Boden unter der Asche ausgleiten und sich verletzen mochte, und jetzt hatten sie den Fluß erreicht. Sein Wasser war warm. Grauer Dampf stieg von seiner Oberfläche hoch und berührte ihr Gesicht mit der unangenehmen Klebrig-keit von Spinnweben. Hier und da schienen sich kleine Nester von Glut und Hitze unter seiner Oberfläche gehalten zu haben; denn an manchen Stellen kochte es regelrecht. Schwarze Schlieren tanzten auf den Wellen. Und manchmal trug die Strömung formlose, dunkle Brocken heran; ab und zu auch etwas Größeres, das sie nicht erkennen konnte und wollte.
»Wo sind wir?«
Gedelfis Stimme klang brüchig; so morsch wie die dünne Kruste, über die sie gingen, und ebenso in Gefahr, jeden Moment einzubrechen. Die Hand, die auf Taliannas Schulter lag, bewegte sich nicht, aber anders, als sie es gewohnt war, war ihr Griff beinahe schmerzhaft fest, nicht mehr leicht und freundlich.
So lange sie denken und laufen konnte, war es ihre Aufgabe gewesen, den blinden alten Mann zu führen, und die Berührung seiner rissigen Haut war ihr so vertraut, als wäre es ein Stück von ihr selbst. Aber immer war sein Griff sanft und irgendwie dankbar gewesen, weil sie es war, die ihn vor Schaden bewahrte und ihm die Augen ersetzte, die er nicht mehr hatte. Jetzt klammerte er sich an ihr fest; mit der verzweifelten Kraft eines Menschen, der wußte, daß er in einen Abgrund stürzen mußte, wenn er seinen Halt losließ. Es tat weh.
»Wo sind wir, Talianna?« fragte Gedelfi noch einmal, als sie nicht antwortete.
»Am Fluß«, sagte sie hastig. »Am...« Sie stockte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich rissig und heiß waren und schmerzten, und begann von neuem. »An der Stelle, an der das Waschhaus stand.«
»Ist es zerstört?«
Talianna schüttelte den Kopf. Ihr Haar glitt dabei über den Handrücken des Alten, so daß er die Bewegung spürte. »Nein«, sagte sie. »Es ist fort.«
»Fort.« Gedelfi wiederholte das Wort mit dem sonderbaren Schmatzlaut, mit dem alte Menschen manchmal reden. Aber es war eher, als prüfe er seinen Geschmack.
»Fort.«
Talianna nickte. Das Waschhaus, halb auf dürren Stelzbeinen in den Fluß gebaut, so daß sich die Frauen auf seinen durchbrochenen Boden knien und ihre Wäsche waschen konnten, war eines der wenigen nicht aus Stein erbauten Häuser Stahldorfs gewesen, und so waren nicht einmal Ruinen geblieben. In der warmen Asche am Ufer waren noch die Schemen seines Grun-drisses zu erkennen, und dicht unter den sprudelnden Fluten standen die abgesenkten Stümpfe seiner Stützen, aber das war alles. Der Feuersturm mußte es pulverisiert haben; vielleicht hatte er es wie ein trockenes Blatt zur Gänze angehoben und in der Luft zerrissen; vielleicht war es auch einfach in den Fluß gestürzt und davonge-schwemmt worden. Es blieb sich gleich.
Talianna verstand für einen Moment selbst nicht, warum sie das Schicksal dieser unbedeutenden Bretter-bude so interessierte, bis sie begriff, daß da wohl irgend etwas in ihrem Bewußtsein war, was nicht wollte, daß sie darüber nachdachte, was mit dem Rest der Stadt geschehen war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie wohl spätestens an dieser Stelle kehrt gemacht und die Stadt verlassen.
Aber sie war nicht allein. Gedelfi, dessen Auge sie war, war bei ihr, und hinter sich hörte sie die Schritte und Stimmen der anderen, die nach und nach den Hügel herabgekommen waren. Den Blinden und sie mitgerech-net, waren sie elf, die sich in dem aufgelassenen Minenschacht verkrochen hatten, als der Feuerregen begann, elf von mehr als dreitausend. Ein jämmerlicher Haufen Verlorener, zu dem nicht einmal mehr das Wort Überlebende gepaßt hätte. Überleben bedeutet Weiterleben, und Weiterleben hieß vielleicht Hoffnung und ein neuer Anfang - oder wenigstens den Versuch dazu. Nichts von alledem war ihnen geblieben. Sie lebten, das war alles.
Erneut wunderte sich Talianna über sich selbst, über die Gedanken, die plötzlich in ihrem Kopf waren und die sie noch vor wenigen Stunden nicht einmal verstanden hätte. Und mit der gleichen sonderbaren Klarheit, mit der sie sie jetzt begriff, begriff sie plötzlich auch, daß sie in der endlosen schwarzen Feuernacht im Bauche der Erde mehr verloren hatte als ihre Heimat und ihre Familie. Der fliegende Tod hatte sie verschont, aber sein Feuer hatte ihr etwas genommen, was sie noch gar nicht gehabt hatte, jedenfalls nicht genug, und was sie nun auch nicht mehr haben würde.