Und plötzlich begriff Tally.
Eine Sekunde lang lähmte sie der Gedanke, denn wenn ihre Vermutung stimmte, dann...
Langsam, ganz langsam, als müsse sie gegen einen unsichtbaren zähen Widerstand ankämpfen, ließ sie die Hand sinken, sah dem Erlöschen des Riesenschattens zu und drehte sich zu Hrhon um.
»Die Karten«, sagte sie. »Geh hinunter und hol' mir ein paar von den Karten, Hrhon. Schnell.«
Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihr Verdacht war kein Verdacht mehr, sondern Gewißheit - es war alles so klar und einleuchtend, daß es einfach keine andere Erklärung geben konnte. Aber etwas in ihr weigerte sich einfach, sie als wahr anzuerkennen, denn wenn sie es täte, müßte sie gleichzeitig zugeben, daß alles noch viel sinnloser gewesen war, als sie bisher geglaubt hatte.
Während sie darauf wartete, daß Hrhon zurückkehrte, untersuchte sie die Spiegelkonstruktion eingehender. Es gab eine Menge Dinge, die sie nicht verstand - Dutzende von Schrauben und Hebeln, mit denen der Spiegel in jede nur denkbare Richtung und Lage gedreht werden konnte, und sehr dicke Glasscheiben, die auf sonderbare Weise geschliffen waren, so daß sie alles verzerrten, was dahinter lag. Unmittelbar unter und vor dem Spiegel selbst gab es eine Art kleines Tischchen, das aus zwei metergro-
ßen Kristallscheiben bestand, zwischen denen ein finger-breiter Spalt war. Vorsichtig nahm sie ihren Dolch, schob die Klinge zwischen die beiden Scheiben und blickte nach Westen. Irgend etwas Riesiges, Finsteres huschte über die Dünen und verschwand, als sie die Waffe hastig zu-rückzog.
»Wasss isst dass, Herrin?« erkundigte sich Essk neugierig. »Sssauberei?«
Tally schüttelte zornig den Kopf. »Nein« sagte sie.
»Etwas, das schlimmer ist, Essk.«
Wütend stand sie auf, schob den Dolch in den Gürtel zurück und sah sich ungeduldig nach Hrhon um. »Warte, bis Hrhon kommt«, sagte sie. »Dann zeige ich es dir.«
Aber anders als gewohnt nahm Essk ihren Befehl nicht stumm hin, sondern wich ein ganz kleines Stück von der Spiegelkonstruktion zurück. »Esss ghefällt mir nissst«, zischelte sie. »Bössse Magie.«
»Es ist keine Zauberei, du Flachkopf«, sagte Tally ärgerlich. Sie mußte sich mit aller Macht beherrschen, ihren Zorn nicht auf die Wagas abzuladen. Der Gedanke an das, was sie vor sich hatte - und das, was es bedeutete!
- trieb sie fast in den Wahnsinn.
Aber Essk beharrte auf ihrem Standpunkt. »Bössse Magie«, behauptete sie. »Isss sphüre esss. Esss mhacht mir Angssst. Nhur Magie macht Angssst.«
Tally wollte auffahren, blickte die Waga aber statt dessen nur mit einer Mischung aus Zorn und Betroffenheit an.
Essk redete Unsinn - diese was-immer-es-war hatte ganz eindeutig nichts mit Magie zu tun. Und doch hatte sie vielleicht recht. Wenn auch auf eine gänzlich andere Art, als sie selbst ahnen mochte.
Es dauerte lange, bis Hrhon zurückkam. Tally bedauerte fast, nicht selbst hinuntergegangen zu sein, um die Karten zu holen; denn selbst ein Waga, der rannte, bewegte sich noch zu langsam. Zugleich aber hatte sie fast Angst vor dem Moment, in dem er zurückkam; denn wenn sich ihr Verdacht bestätigte, wenn sie sich selbst bewies, daß sie recht hatte, wie sollte sie dann noch leugnen, was nicht wahr sein durfte?
Als der Waga schließlich kam, beide Arme mit den säuberlich zusammengerollten Karten beladen, zögerte sie fast, ihm seine Last abzunehmen. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie eine der Pergamentrollen an sich nahm und das dünne Lederband löste, mit dem es ver-knotet war.
Vorhin, als sie diese Karten zum ersten Male in Händen gehalten hatte, waren sie ihr fast sinnlos erschienen, aber plötzlich bekam alles, was ihr so sonderbar vorgekommen war, eine entsetzliche Bedeutung: das Pergament, das so dünn war, daß das Licht hindurch schien, die verwirrenden Linien und Umrisse, mit dünnen, zitterig wirkenden, blutroten Strichen gemalt, die fremdartigen Schriftzeichen und Symbole...
Sie drängte das Entsetzen zurück, das von ihr Besitz ergreifen wollte, wandte sich mit einem Ruck um und schob die Karte zwischen die beiden Glasplatten.
Draußen über der Wüste erschien ihr Spiegelbild, zehntausendfach vergrößert, und mit einem Male waren die Linien nicht mehr zitterig und unsicher, sondern Flammen, haushohe, lodernd-rote Flammen, mit denen die Götter ihre Befehle an den Himmel schrieben, waren winzige Punkte Flecke zu Bergen und Städten geworden, kaum wahrnehmbare Linien zu flammenden Küsten, die Schriftzeichen, die ihr so fremd und gleichzeitig bekannt erschienen waren, spiegelbildlich verkehrt, Worte in Flammenschrift.
Lüge! hämmerten ihre Gedanken. Alles war Lüge! Von Anfang an! Sie hatten sie belogen! Sie hatten Hraban belogen, seine Vorgänger, sie selbst. Lüge, Lüge, Lüge! Es gab keine Götter. Es hatte sie niemals gegeben. Es gab nur diesen Betrug, eine gigantische, ungeheuerliche Lüge, einen Betrug an einer ganzen Welt, der so zynisch war, daß sich etwas in Tally selbst jetzt noch weigerte, ihn als wahr zu akzeptieren.
Die Erkenntnis traf sie mit einer solchen Wucht, daß sie schwankte und haltsuchend nach dem Spiegel griff.
Eine schwarze Spinne huschte über die Flammenschrift der Götter draußen in der Wüste und löschte sie aus.
Und irgend etwas geschah mit Tally, in diesem Moment. Was sie für Entsetzen gehalten hatte, war in Wahrheit Zorn, ein so heißer, wütender Zorn, daß sie ihn als echten körperlichen Schmerz spürte, wie einen Krampf, der jede einzelne Faser ihres Körpers zusammenzog. Sie schrie auf, riß das Schwert aus dem Gürtel und schwang die Waffe mit beiden Händen über dem Kopf. Hrhon und Essk brachten sich mit grotesk anmutenden Hüpfern in Sicherheit, als die Klinge mit furchtbarer Wucht auf die Spiegelkonstruktion herunter-krachte.
Das Gebilde zerbarst schon beim ersten Hieb, aber Tally schlug weiter und weiter auf seine Überreste ein, immer und immer wieder, bis das stählerne Dreibein verbogen und zerbrochen vor ihr lag und von dem Spiegel nichts mehr übrig war als zahllose Splitter, wie glitzernde Tränen auf der Plattform verteilt. Aber selbst dann tobte Tally noch weiter, bis sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, das Schwert zu heben, und erschöpft auf die Knie sank.
Sie spürte kaum mehr, wie Hrhon sie nach einer Weile fast sanft am Arm in die Höhe zog und zurück in den Turm führte.
»Eine Maschine!« Tally ballte in hilflosem Zorn die Faust, schlug sich in die geöffnete Linke und sprang auf. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, irgend etwas zu zerstören; etwas zu packen und zu zerschlagen, irgend etwas, das ihnen gehörte, und am liebsten einen von ihnen selbst, wer immer sie sein mochten. Zornig fuhr sie herum und versetzte dem Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, einen so wuchtigen Tritt, daß er quer durch die Kammer flog und an der gegenüberliegenden Wand zerbrach. Ihre Wut sank dadurch um keinen Deut; ganz im Gegenteil fühlte sie sich eher noch hilfloser - und zorniger - als zuvor.
Es war dunkel geworden. Tally hatte den Rest des Tages im Inneren des Turmes verbracht, zum Teil mit dumpfem vor-sich-Hinbrüten und zum Teil mit etwas, das ihrem Naturell weitaus mehr entsprach: mit Toben.