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»Jemand?« Tallys Hand glitt zum Schwert, ohne daß sie es auch nur bemerkte. »Wer? Wo?«

Hrhon machte eine ungeschickte Geste nach oben.

»Dort. Drei. Vhielleicht vhier. Ich khonnte nicht ghenau sssehen, was...«

Tally hörte nicht mehr, was Hrhon nicht genau hatte sehen können, denn sie war bereits an ihm vorbei,und rannte, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

Keuchend erreichte sie die kleine Plattform am abgebrochenen oberen Ende des Turmes, blieb stehen und richtete den Blick nach Norden.

Es waren drei. Sie waren noch weit entfernt, zahllose Meilen, und so hoch, daß sie nur als winzige dunkle Punkte vor dem nicht ganz so dunklen Blau des Nachthimmels auszumachen waren, und auch das eigentlich nur, weil sie sich bewegten. Das Schlagen ihrer gigantischen schwarzen Schwingen war nicht mehr als ein Flackern, das dumpfe Rauschen und der durchdringende Drachengestank existierten nur in Tallys Phantasie, und die krächzenden Schreie, die sie zu hören glaubte, waren ihre eigenen, keuchenden Atemzüge.

Sie kamen! Sie würde sie sehen, nicht als verschwommene Schatten in der Nacht, nicht als schwarze Drohung, die nur zu ahnen und nicht wirklich zu erkennen war, sondern unmittelbar. Sie würde einer von ihnen gegenüberstehen, Auge in Auge.

Tallys Handflächen wurden feucht vor Schweiß. Ihr Herz schlug plötzlich sehr langsam, aber so schwer wie ein Hammerwerk. Wieder glitt ihre Hand zum Schwert und schmiegte sich um den lederumwickelten Griff, aber diesmal war es, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht vollends die Verbindung zur Wirklichkeit zu verlieren. Für einen Moment begannen die Umrisse der drei Drachen vor ihren Augen zu verschwimmen. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Jahre? Zehn Jahre mindestens, seit dem Tage, an dem Hraban sie das erste Mal mit hierher in die Wüste genommen und sie das Geheimnis der Flammenschrift kennengelernt hatte.

Aber in Wahrheit war es wohl weit mehr. Im Grunde hatte sie jede Sekunde der letzten fünfzehn Jahre auf diesen Augenblick gewartet, jeden Atemzug, den sie getan hatte, seit jener Nacht, als sie aus dem Wald trat und die verbrannte Stadt ihrer Kindheit unter sich liegen sah. Im Grunde war keine Sekunde in all diesen Jahren vergangen, in der sie nicht für ihre Rache gelebt hatte.

Und jetzt würde sie sie vollziehen.

Einer der beiden Wagas trat schnaubend hinter ihr auf die Plattform, und als sie sich umwandte, erkannte sie Hrhon. In der Dunkelheit war er nicht mehr als ein massiger schwarzer Schatten, in dem nur die Augen von glitzerndem Leben erfüllt waren. Aber sein Erscheinen riß Tally abrupt in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich wurde sie sich des eigenen Umstandes bewußt, daß vielleicht mehr dazu gehörte, Rache zu nehmen, als dazustehen und zu warten, daß ihre Feinde eintrafen

- wie zum Beispiel die Kleinigkeit, dieses Eintreffen auch zu überleben...

»Zurück«, befahl sie grob. »Wir müssen uns irgendwo verstecken. Rasch jetzt - sie werden gleich da sein.«

Hrhon gehorchte schweigend, aber bevor er sich umdrehte, warf er noch einen letzten Blick auf die drei gigantischen schwarzen Schatten am Himmel, die sich dem Turm näherten. Tally war sich der Tatsache durchaus bewußt, daß es vollkommen unmöglich war - aber für einen kurzen Moment war sie vollkommen sicher, auf dem Gesicht des Waga einen Ausdruck nackter Angst zu sehen.

Sie verscheuchte den Gedanken, gab Hrhon einen unsanften Stoß in den Rücken und hetzte hinter ihm die Treppe hinunter.

~ 9 ~

Sie waren wieder im Balkonzimmer, dem vorletzten vor dem Quartier der Hornköpfe. Tally sah sich unschlüssig um. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach unter dem Bett zu verkriechen und die beiden Wagas hinter dem Vorhang zu postieren, aber sie verwarf die Idee so schnell wieder, wie sie ihr gekommen war. Es hatte keinen großen Sinn, Fallen zu stellen, wenn sie nicht einmal wußte, mit wie vielen Feinden sie zu rechnen hatten. Die Drachen waren groß genug, ein halbes Dutzend Reiter zu tragen - pro Tier. Aber es mochte ebensogut nur einer sein. Nein - sie mußten erst wissen, mit wem sie es überhaupt zu tun hatten, ehe sie überlegen konnten, wie sie vorgingen.

Aber das war leichter gesagt als getan; denn obgleich es mehrere Dutzend Kammern und Zimmer gab, waren die meisten davon leer, und auch die bewohnten Teile des Quartiers boten wenige Möglichkeiten, einen Menschen und zwei Wagas zu verbergen, sah man von so intelligenten Verstecken wie Kleiderschränken und Vorhängen ab, hinter denen die Neuankömmlinge garantiert sofort nachsehen würden. Sie hätten schon blind und vollkommen schwachsinnig zugleich sein müssen, um nicht zu bemerken, daß hier irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte - ganz abgesehen davon, daß die beiden rechtmäßigen Bewohnerinnen des Turmes nicht da waren, mußte ihnen der zerstörte Spiegel oben auf der Plattform auffallen, noch bevor sie landeten. Tally verfluchte sich im Nachhinein für ihre eigene Unbeherrscht-heit, den Spiegel zerschlagen zu haben. Aber jetzt war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen; ihnen blieben noch zehn Minuten, allerhöchstens.

Tally warf einen raschen, nervösen Blick zur Tür, schob das Schwert in den Gürtel zurück, das sie ganz instinktiv gezogen hatte, und schlug den schweren Samtvorhang zur Seite, der den Durchgang zum Balkon verbarg. Der Wind schlug ihr wie eine eisige Kralle ins Gesicht und ließ sie blinzeln. Jetzt, mitten in der Nacht, wirkte das Innere des Turmes wie ein bodenloser Schlund, der nur darauf wartete, daß sie ihm zu nahe kam und an dessen Grund etwas namenlos Böses, Kör-perloses lauerte.

Trotzdem trat sie nach kurzem Zögern ganz an das Geländer heran, legte die Hände auf das kalte Eisen und beugte sich vor, so weit sie konnte. Der Sog des Abgrundes wurde stärker. Für einen Moment mußte sie all ihre Willenskraft aufbieten, um ihm nicht einfach nachzugeben und sich nach vorne fallen zu lassen.

Es war schwer, in der herrschenden Dunkelheit überhaupt etwas zu erkennen, aber nachdem sich ihre Augen einmal an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah sie genau das, was zu sehen sie gehofft hatte: der Balkon war nicht als freitragende Konstruktion gebaut, sondern wurde von drei mächtigen, schräg aus der Wand ragenden Balken gestützt. Und mit einigem Geschick mußte es möglich sein, über die Brüstung zu klettern und auf diesen Balken sicheren Halt zu finden.

Sie richtete sich auf, winkte Hrhon und Essk zu sich und erklärte ihnen ihren Plan. Hrhon schwieg, wie fast immer, wenn sie ihm einen Befehl erteilte, während seine Gefährtin sichtlich erschrocken zusammenfuhr und einen zischelnden Laut von sich gab.

»Ich weiß, daß es gefährlich ist«, sagte Tally. »Aber es ist die einzige Möglichkeit. Wenn sie euch beide hier finden, können sie sich den Rest der Geschichte an den Fingern einer Hand abzählen. Ihr versteckt euch hier, bis ich euch rufe.«

»Uhnd Ihr, Herrin?« fragte Hrhon.

»Ich werde sie hier erwarten«, antwortete Tally. »Ich bin allein und stelle keine unmittelbare Gefahr für sie dar. Vielleicht erfahre ich auf diese Weise mehr, als wenn wir gleich über sie herfallen.«

»Ein ghuter Plan«, stimmte Hrhon nach kurzem Überlegen zu. »Abher ghefhärlich.«

Tally warf einen schrägen Blick auf das Balkongitter und fragte sich, wie Hrhons Worte wohl wirklich gemeint waren. Selbst für einen geschickten Kletterer wie sie war es nicht ohne Risiko, über die Brüstung zu steigen und sich auf den Balken festzuklammern - für ein Wesen wie Hrhon grenzte es an Selbstmord. Tally schalt sich in Gedanken eine Närrin, die Zeit nicht genutzt zu haben, sich nach einem besseren Versteck umzusehen.