Tally wäre nicht einmal dazu gekommen, zu antworten, wenn sie es gewollt hätte, denn im gleichen Augenblick wurde eines der Schwerter gesenkt, und eine Hand packte sie an der Schulter und riß sie grob in die Höhe.
Sie strauchelte, prallte unsicher gegen die Wand und glitt aus, aber die gleiche Hand, die sie zuvor gestoßen hatte, fing sie nun auf - wenn auch nur, um sie abermals gegen die Wand zu stoßen und gleich darauf in Form einer kräftigen Ohrfeige auf ihre linke Wange zu klatschen.
»Wer du bist, habe ich gefragt!«
Tally hob angstvoll die Hände vor das Gesicht. Alles war so schnell gegangen, daß sie erst jetzt richtig sah, mit wem sie es zu tun hatte: es waren drei Frauen, alle etwa gleich groß, etwa im gleichen Alter und auf die gleiche Weise gekleidet - in schwarzes, nahezu hauteng anliegendes Leder, das ihre Körper fast völlig einhüllte und nur einen handgroßen Ausschnitt ihrer Gesichter frei-ließ. Aus einer dieser Ausschnitte funkelten sie nun ein Paar schwarzer, sehr zorniger Augen an.
»Ich habe dich gefragt, wer du bist!« Wieder hob sich die schwarzbehandschuhte Hand, um sie zu schlagen, aber diesmal wurde die Fremde von einer der beiden anderen Frauen zurückgehalten.
»Laß sie, Maya«, sagte sie scharf. »Wir klären das später. Zuerst müssen wir herausfinden, was hier geschehen ist.«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer befehlenden, schnellen Geste, drehte sich herum und hob die linke Hand vor die Lippen, um einen schrillen, trällernden Laut zu produzieren. Einen Augenblick später traten vier gewaltige Hornköpfe in den Raum, alle vier hoch beladen mit Säcken und schweren, in Tuch eingeschlagenen Bündeln.
Tally schrie vor Schrecken auf, als sie die Ungeheuer sah. Zwei von ihnen waren Ameisenabkömmlinge, wie sie an den kräftigen, dreifach gegliederten Körpern und den großen Augen erkannte, in denen eine tückische Intelligenz zu schlummern schien. Die dritte war eine jener gigantischen Beterinnen, wie sie Hrhon und Essk am Vortage getötet hatten. Das vierte Ungeheuer schließlich gehörte einer Spezies an, wie es Tally noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war ihr unmöglich, das gepanzerte, vielgliedrige Ding auch nur annähernd zu beschreiben
- aber es war so groß, daß es Mühe hatte, sich geduckt und schräg gehend durch die Tür zu schieben, und schien nur aus Panzerplatten und Dornen zu bestehen. Tally dankte im Stillen den Göttern, daß sie am vergangenen Abend nicht auf eines dieser Ungeheuer gestoßen waren - nach einem Zusammenprall mit dieser Bestie mußten selbst die beiden Wagas aussehen, als wären sie nach fünf Meilen Anlauf in einen Riesenkaktus gerannt. Sie merkte sich die Bestie als denjenigen ihrer Gegner vor, die sie zuerst töten würde.
Die Frau, bei der es sich offensichtlich um die Anführerin der Gruppe handelte, wechselte eine Folge schneller, pfeifender Klick- und Schnalzlaute mit den Hornköpfen und deutete dabei abwechselnd auf Tally, sich selbst und den nach unten führenden Durchgang. Die Blicke des Rieseninsektes hefteten sich für einen kurzen Moment auf Tallys Gesicht, und obwohl es wenig mehr als eine Sekunde dauerte, war es doch das Unangenehmste, was sie jemals erlebt hatte - und das Erschreckendste.
Es war kein Tier.
Tally war zahllosen Hornköpfen begegnet, seit sie bei Hraban und der Sippe lebte, und manche davon hatten dieses Scheusal an bizarrem Aussehen noch in den Schatten gestellt - aber sie alle waren Tiere gewesen, stumpfsinnige Kreaturen, die kaum einen eigenen Willen besaßen und nicht zu bewußtem Denken in der Lage waren.
Dieser Hornkopf war anders.
Seine faustgroßen Facettenaugen waren ausdruckslos und starr wie die aller Insekten, und doch spürte Tally mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie einem denkenden Wesen gegenüberstand, keinem zu groß geratenen Insekt, dessen Gehirn vergessen hatte, mit dem Körper mitzu-wachsen.
Es war ihr unmöglich, sich dem Blick dieser Augen zu entziehen. Die starren, in allen Farben des Regenbogens funkelnden kristallenen Halbkugeln lähmten sie, und es war etwas... saugendes in ihrem Blick, etwas, als griffe eine unsichtbare Kralle blitzartig in Tallys Kopf und drehte das Unterste ihrer Gedanken zuoberst. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Tally die entsetzliche Vorstellung, daß das Ungeheuer ein natürlicher Telepath sein könne, und daß ihr Plan im gleichen Moment zum Scheitern verurteilt war, in dem es sie ansah.
Aber dann löste sich der Blick dieser entsetzlichen Kristallaugen von ihr, und der schwarzglänzende Gigant wandte sich wieder um und beugte sich zu der Men-schenfrau herab, die ihm Befehle erteilte. Tally atmete erleichtert auf. Ihre Knie zitterten so heftig, daß sie sich gegen die Wand lehnen mußte, gegen die Maya sie gestoßen hatte.
»Du bewachst sie!« befahl die Frau Maya. »Wir sehen uns ein wenig um. Und kein Wort!«
Maya nickte, wenn Tally ihr auch ansah, daß ihr zumindest der zweite Teil des Befehles nicht sonderlich behagte. Das zornige Funkeln in ihren Augen war etwas, was Tally nur zu gut kannte; statt sie einfach nur zu bewachen, hätte Maya wohl nichts lieber getan, als die Antworten auf ihre Fragen aus ihr herauszuprügeln.
Aber sie widersprach mit keinem Wort, sondern trat nur einen Schritt zurück, tauschte das Schwert in ihrer Hand gegen eine der kleinen Waffen und durchbohrte Tally mit Blicken, während die beiden anderen Frauen und die Hornköpfe die Kammer wieder verließen - eine in der Richtung, aus der sie gekommen waren, die andere durch die turmabwärts führende Tür. Ihre Schritte verklangen rasch auf dem steinernen Boden.
»Wer... wer seid Ihr, Herrin?« fragte Tally, nachdem sie allein waren. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung, was Maya mit Sicherheit für Angst halten würde. Tally war es nur recht - letztendlich spielte sie die Ahnungslose, die im Schlaf überrascht worden war und noch gar nicht so recht begriff, wie ihr geschah. »Seid Ihr... gehört Ihr zu denen, die diesen Turm...«
»Halt den Mund«, unterbrach sie Maya grob. »Wir reden, wenn Lyss zurück ist. Bis dahin hast du Zeit, dir ein paar plausible Erklärungen für das hier...« Sie machte eine weit ausholende Bewegung mit der freien Hand,
»... einfallen zu lassen.«
Tally verstummte gehorsam. Maya schien gehörigen Respekt vor dieser Lyss zu haben, wenn sie ihre Befehle selbst dann befolgte, wenn diese nicht dabei war. Zweifellos war Lyss die Führerin der kleinen Gruppe, und daß sie Maya daran gehindert hatte, Tally zu schlagen, hieß noch lange nicht, daß sie die Sanftmütigere von beiden war.
Tally überlegte einen Augenblick, was sie wohl mit jemandem tun würde, den sie umgekehrt in ihrem Haus vorfin-den würde, noch dazu, wenn dieses gründlich verwüstet und alle seine Bewohner erschlagen worden waren. Das Ergebnis, zu dem sie kam, gefiel ihr nicht sonderlich.
Maya wich einen weiteren Schritt zurück, ließ sich auf die Bettkante sinken und stützte sich bequem mit dem linken Arm in den weichen Kissen ab. Die Waffe in ihrer anderen Hand blieb dabei weiter auf Tallys Gesicht gerichtet; ihr Daumen strich nervös über das kleine Licht in ihrem Griff, so daß es zu blinzeln schien wie ein winziges müdes Auge.
Nicht, daß es ihr im Ernstfall viel genutzt hätte, dachte Tally spöttisch. Maya saß weniger als zwei Schritte entfernt, und in einer sehr unvorteilhaften Haltung. Eine blitzschnelle Drehung, ein Tritt, und sie würde dieser schwarzäugigen Schönheit den Lauf ihrer eigenen Waffe zwischen die Zähne oder sonst wohin schieben, ehe sie überhaupt begriff, wie ihr geschah. Natürlich tat sie es nicht - sie hatte dieses Risiko nicht auf sich genommen, um die drei Drachenreiterinnen zu töten - wenigstens jetzt noch nicht - sondern um an Informationen zu kommen. Aber allein das Wissen, es tun zu können, wenn sie es wollte, gab ihr einen guten Teil ihrer gewohnten Selbstsicherheit zurück.