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Tally sprang hastig auf die Füße, lief quer durch den Raum, um ihr Schwert aufzuheben, und stürmte auf den Hornkopf zu. Sie schwang die Waffe mit beiden Händen, spannte jeden einzelnen Muskel bis zum Zerreißen an und ließ die Klinge mit aller Gewalt auf den schwarzen Chitinpanzer des Käfers herunterkrachen.

Die Klinge brach ab.

Ein entsetzlicher Schmerz zuckte durch Tallys Arme bis in die Schultern hinauf und lähmte sie. Sie taumelte zurück, ließ den nutzlosen Schwertgriff fallen und versuchte sich mit einem Satz in Sicherheit zu bringen, als Vakk mit einer wütenden Bewegung nach ihr schlug.

Sie schaffte es nicht ganz. Die Faust des Hornkopfes streifte ihren Rücken, und schon diese eine, beinahe flüchtige Berührung reichte, Tally haltlos vier, fünf Schritte weit vorwärts taumeln und der Länge nach hin-schlagen zu lassen. Einen Moment lang blieb sie benommen liegen, dann stemmte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Knie und drehte sich herum.

Sie sah, wie Essk starb.

Vakk bäumte sich mit einem wütenden Zischen auf, schüttelte Hrhon wie ein lästiges Insekt von seinem Rücken herunter und schlug mit allen vier Armen auf Essks Rückenpanzer. Gleichzeitig schlossen sich seine gewaltigen Zangen mit erbarmungsloser Kraft.

Essks Rückenschild zerbrach. Ein schriller, überschnappender Schrei drang aus dem Panzer der Waga, dann tauchte ihr Kopf zwischen den grünbraunen Schuppen auf, das Gesicht verzerrt vor Schrecken und Qual; dunkles Echsenblut tropfte aus ihrem Maul.

Vakk zertrümmerte ihr mit einem einzigen Hieb seiner gewaltigen Scheren den Schädel.

Und im gleichen Moment schien auch in Tally irgend etwas zu zerbrechen. Sie hörte den entsetzlichen Laut, mit dem Essks Schädeldecke zersplitterte, und für einen kurzen, unendlich kurzen Moment glaubte sie den Schmerz der Waga wie ihren eigenen zu spüren. Sie schrie auf, fiel ein zweites Mal auf die Ellbogen herab und spürte etwas Kleines, sehr Kaltes zwischen den Fingern, ein bizarres schwarzes Ding mit einem rotleuch-tenden Dämonenauge an der Seite.

Irgend etwas geschah mit ihr, etwas Furchtbares, das vor fünfzehn Jahren begonnen hatte und erst jetzt zum Abschluß kam. Sie dachte nicht mehr. Sie bestand nur noch aus einem ungeheuren, jedes andere Gefühl hin-wegfegenden Haß. Ihre Hand schloß sich um die Waffe, hob sie, richtete sie auf den tobenden Giganten, der sich mit grotesk langsam wirkenden Bewegungen herumdrehte, ihr Finger glitt über das kalte glatte Metall des Griffes, verharrte einen Sekundenbruchteil über dem roten Teufelslicht und senkte sich.

Tally fühlte nur ein ganz sachtes Vibrieren, als sich die Waffe entlud. Aber wie zuvor war die Wirkung entsetzlicher als alles, was sie jemals erlebt hatte.

Vakk wurde von einer unsichtbaren Dämonenfaust getroffen und gegen die Wand geschleudert. Seine Panzerplatten zerbrachen wie Glas. Eines seiner Facettenaugen erlosch, von einer unsichtbaren Faust getroffen und zermalmt; gelbes Insektenblut besudelte sein Gesicht. Er fiel nicht, sondern stand einfach da, reglos, nur ganz leicht zitternd, sein einzelnes, sehendes Auge auf Tally gerichtet, die Arme weit gespreizt, wie eine überlebensgroße Statue.

Tally schoß ein zweites Mal.

Vakks Brustpanzer zersplitterte wie unter einem Hammerschlag. Einer seiner Arme brach ab und flog davon, und plötzlich durchzog ein Spinnennetz aus Tausenden feinverästelter Risse und Sprünge durch seinen tonnenförmigen Leib. Gelbes Insektenblut quoll wie zähflüssiger Honig aus seinem Maul.

Er war tot, noch ehe er nach vorne kippte und auf dem Boden aufschlug, aber Tally schoß noch einmal, und noch einmal und noch einmal, bis der gigantische Hornkopf nichts mehr war als ein schwarzgelber, brodelnder Haufen aus zerfetztem Fleisch und zerborstenen Panzerplatten.

Aber selbst dann feuerte sie weiter; ein, vielleicht zwei dutzend Mal, bis die Waffe in ihrer Hand nur noch ein protestierendes Summen ausstieß und das rote Dämonenauge zu flackern begann. Erst dann ließ sie den Arm sinken, hob die linke Hand vor das Gesicht und schloß die Augen.

Sie fühlte... nichts. Eine Leere, die entsetzlicher als der Haß zuvor, schlimmer als die Angst war. Dann Entsetzen, ein unendlich tiefes, kaltes Grauen vor sich selbst, vor dem Ungeheuer, in das sie sich für Augenblicke verwandelt hatte, dem Blutrausch, der sie überkommen hatte.

Sie hatte getötet, aber zum allerersten Mal in ihrem Leben hatte es ihr Freude bereitet, keine Befriedigung, wie bei Hraban, keinen Triumph, wie in den unzähligen Schlachten und Zweikämpfen, die sie bestanden hatte, sondern Freude. Und sie wußte, daß es keine Rolle spielte, daß es ein Hornkopf gewesen war. In diesem Moment hätte sie auch Lyss oder eine der beiden anderen Frauen erbarmungslos - und mit dem gleichen furchtbaren Gefühl - getötet.

Plötzlich war ihr kalt. Und sie ekelte sich vor sich selbst. Angewidert schleuderte sie die Waffe von sich, stand auf und blieb einen Moment reglos mit geballten Fäusten und geschlossenen Augen stehen, bis ihre Hände und Knie aufgehört hatten, haltlos zu zittern.

Hrhon hockte neben Essks Leichnam, reglos und in unnatürlich verkrampfter Haltung, als sie neben ihn trat. Im ersten Moment glaubte sie, er wäre verletzt.

Aber dann sah sie, wie seine Hand in einer unglaublich sanften Bewegung über Essks zerstörtes Gesicht glitt und ihre Lider schloß, und sie begriff, daß Hrhons Schmerz nicht körperlicher Art war.

Ein Gefühl sonderbarer Wärme durchströmte sie. Es war absurd, und es war unglaublich grausam - aber genau das war es, was Tally in diesem Moment spürte: ein Gefühl von Freundschaft und Verbundenheit mit dem Waga, wie sie es niemals zuvor irgendeinem anderen lebenden Wesen gegenüber empfunden hatte. Sie spürte Hrhons Schmerz, den furchtbaren Verlust, den er erlitten hatte, und sie teilte ihn, und trotzdem überkam sie eine tiefe Erleichterung, als sie begriff, daß Hrhon unter der Maske der unbesiegbaren Kampfmaschine ein fühlendes Wesen wie sie war. Sie hätte es in diesem Moment nicht ertragen, wäre es anders gewesen.

Sicherlich zehn Minuten stand sie einfach so da, blickte auf Hrhon und die tote Essk herab und schwieg, bis Hrhon ihre Nähe spürte und schwerfällig zu ihr emporblickte. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber in seinen Augen schimmerten Tränen. Sie hatte bis zu diesem Moment nicht einmal gewußt, daß Wagas weinen konnten.

»Es... es tut mir leid, Hrhon«, sagte sie ganz leise.

Hrhon schwieg.

»Du hast sie geliebt, nicht wahr?« Tally ließ sich neben dem Waga auf die Knie sinken und berührte seinen Schulterpanzer.

»Sssie whar meine Ghefährin«, antwortete Hrhon. In seiner Stimme war ein Klang, den Tally niemals zuvor darin gehört hatte.

»Deine Gefährtin.« Tally versuchte zu lächeln, aber sie spürte selbst, daß eine Grimasse daraus wurde.