»Großer Gott, Hrhon, du hast sie geliebt. Geliebt wie ein Mann eine Frau liebt, ein Mensch einen Menschen.
Und ich habe euch für Tiere gehalten. All die Jahre hindurch.« Sie senkte beschämt den Blick. Hrhon antwortete nicht, aber vielleicht war es gerade das, was es so schlimm machte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
»Dasss bhraucht esss nissst«, antwortete Hrhon.
»Sssie ssstarb im Khampf. Ein ghuter Tod fhür eine Waga.«
»Ein sinnloser Tod«, sagte Tally leise. »Es war alles umsonst, Hrhon. Ich habe euch hierher geführt und Essk damit umgebracht, und es hatte nicht einmal einen Sinn.«
»Sssie sssind tot«, sagte Hrhon mit einer Geste auf die beiden Drachenreiterinnen.
»Aber ich bin nicht gekommen, um sie zu töten«, antwortete Tally. »Ich wollte Informationen von ihnen.
Ich wollte wissen, woher sie kommen. Warum sie tun, was sie tun.«
»Warum?« wiederholte Hrhon. »Warum whollt ihr dasss wisssen, Herrin?«
»Weil ich sie hasse, Hrhon«, antwortete Tally. »Sie haben mein Volk getötet. Sie haben meine Familie vernichtet und meine Stadt ausgelöscht, so wie sie Hunderte von Städten in Dutzenden von Ländern verbrannt haben. Ich hasse sie. Ich... ich kam hierher, um ihr Geheimnis zu ergründen. Ich wollte wissen, wer sie waren, und woher sie kamen.«
»Um sssie sssu sssuchen und aussszulösssen«, vermutete Hrhon. Tally nickte. Es war möglich, daß sie damit ihr eigenes Todesurteil aussprach, und sie wußte es, denn Hrhon gehörte zur Sippe, nicht zu ihr. Aber es war ihr gleich. Sie hätte sich nicht einmal gewehrt, hätte Hrhon sie in diesem Moment angegriffen.
»Ihr müssst sssie sssehr hasssen«, fuhr Hrhon fort, sehr leise, und sehr ernst.
»Mit jeder Faser meiner Seele«, antwortete Tally. »Ich lebe nur dafür, sie zu vernichten, Hrhon.« Ihre Stimme wurde hart. »Das ist der Grund, aus dem ich all dies getan habe. Aus dem ich Hraban gefolgt bin und ihn geheiratet habe. Aus dem ich die Anführerin einer Sippe von Mördern und Gesindel wurde, die durch die Welt zieht und die tötet, die die Drachen übersehen haben.
Und es war alles umsonst.«
»Ssseid Ihr sssicher?« fragte Hrhon.
»Sie sind tot, oder? Tote reden nicht.«
»Eine lebt noch«, erinnerte Hrhon ruhig. »Sssie weiss nicht, wasss gesssehen issst«, fuhr Hrhon fort. »Whir wherden sssie ühberwälthigen. Sssie whird reden.«
»Und wenn nicht?« fragte Tally.
»Sssie whird«, behauptete Hrhon. »Ühberlassst sssie mhir, und ihr wheerdet erfharhen, wasss ihr wisssen wollt.«
Tally schwieg einen Moment. Der Gedanke, Maya
- auch wenn sie zu ihren erklärten Todfeinden gehörte
- einem zornigen Waga auszuliefern, erfüllte sie mit Schaudern. Aber dann blickte sie in Essks zerstörtes Gesicht, und sie begriff, daß dies die Bedingung war.
Ohne daß es einer von ihnen mit nur einem Wort aussprechen mußte, war es eine Vereinbarung. Hrhon würde auch weiterhin bei ihr bleiben, so, wie er ihr mit seiner unerschütterlichen Ruhe und seiner ungeheuren Kraft stets geholfen hatte, aber der Preis dafür war Maya.
Tally begann zu ahnen, daß ihr der Waga im innersten wohl sehr viel ähnlicher war, als sie bisher für möglich gehalten hatte.
»Sie werden erfahren, was hier geschehen ist«, sagte sie leise.
Hrhon schwieg.
»Du kannst nicht zurück zur Sippe, Hrhon«, fuhr Tally fort. »Sie werden sie auslöschen. Sie werden Conden verbrennen.«
Hrhon schwieg noch immer, und auch Tally sagte jetzt nichts mehr.
Eine Stunde später kehrten Maya und die Beterin zurück. Tally erschoß den Hornkopf mit Lyss' Waffe und ließ Hrhon mit Maya allein, um auf die Plattform am oberen Ende des Turmes hinaufzugehen. Sie fragte niemals, was er getan hatte, aber als die Sonne aufging und die erstarrten Dünen der Gehran mit Blut zu überschütten begann, kam der Waga zu ihr herauf. Seine Hände waren voller Blut, und es war nicht sein eigenes.
»Hat sie gesprochen?« fragte Tally, ohne ihn anzusehen.
Der Waga machte eine zustimmende Handbewegung.
»Isss weisss, whoher sssie khommen.«
Tally stand auf. Es war noch kalt, und ihre Glieder fühlten sich klamm und steif an. Fröstelnd rieb sie die Hände aneinander, trat ganz dicht an den Rand der Plattform heran und blickte in die Tiefe. Die Kälte nahm zu, obwohl die Sonne rasch höher stieg, aber es war eine Kälte, die eher aus ihr selbst zu kommen schien. Es war sonderbar - fünfzehn Jahre lang hatte sie von diesem Moment geträumt, und sie hätte Triumph verspüren müssen. Aber er kam nicht. Ganz im Gegenteil hatte sie beinahe Angst davor, endlich die Antwort auf die Frage zu bekommen, deren Lösung sie ihr Leben verschrieben hatte.
Es dauerte lange, bis sie fragte, woher die Drachen kamen.
Hrhon sagte es ihr.
Die Frau hatte aufgehört zu reden, aber das Mädchen merkte es im ersten Moment gar nicht. Sie war müde. Die Nacht war weit fortgeschritten - dem Morgen schon näher als der Mitternacht, und trotz allem, was es gehört und erlebt hatte, verlangte ihr Körper sein Recht. Das Kind war müde, und gleichzeitig hatte es eine fast panikartige Angst davor, einzuschlafen.
Es hatte Angst, es könnte aufwachen und allein sein. Die fremde Frau mit den dunklen Haaren und der sanften Stimme, die so faszinierend zu erzählen wußte, war jetzt alles, was es noch hatte.
»Bist du müde, Kind?« fragte die Frau.
Das Mädchen schüttelte den Kopf, dann bemerkte es den zweifelnden Blick und lächelte verlegen. Nur noch mit Mühe unterdrückte es ein Gähnen. »Ja«, gestand es. »Aber ich will nicht schlafen.«
»Du kannst es ruhig«, sagte die Frau. »Ich werde aufpassen, daß dir nichts geschieht.«
Das Mädchen schüttelte beinahe erschrocken den Kopf.
»Nein«, sagte es hastig. »Ich will nicht schlafen.« Es zögerte einen Moment, dann: »Ist... Tallys Geschichte damit zu Ende?«
Ihre Frage schien die Fremde zu amüsieren, denn sie lachte leise. »O nein«, sagte sie. Wieder - wie schon mehrere Male zuvor - legte sie den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel, und das Mädchen war jetzt sicher, daß sie es tat, weil sie etwas ganz Bestimmtes suchte oder auf etwas wartete. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, auf was. Aus dem Himmel kamen nur die Drachen und der Tod.
»Soll ich weitererzählen?« fragte die Frau.
Das Mädchen nickte.
»Dann hör zu«, sagte die Frau. »Es kam genau so, wie Tally geglaubt hatte. Natürlich erfuhren die Herren der Drachen, was in jener Nacht im Turm geschehen war, und sie übten furchtbare Rache. Tally und Hrhon gingen nicht zurück nach Conden, aber später hörten sie, daß die Drachen gekommen waren, kaum einen Monat nach ihrer Flucht, und die gesamte Sippe ausgelöscht hatten.«
Das Mädchen schauderte. Es erschien ihr ungerecht, daß so
viele hatten sterben müssen, nur um der Rache einer einzelnen Frau wegen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis zurück, daß es ja schließlich nur eine Geschichte war, die die Frau erzählte.