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Nein - sie würde nicht zu dieser Brücke reiten. Wäre sie allein gewesen, wäre sie vielleicht einfach die Klippe hinuntergestiegen; denn die Wand war zwar hoch und fast senkrecht, aber so zerklüftet, daß selbst ein Kind an ihr hinabklettern konnte. Ein vor Kälte halb erstarrter Waga jedoch nicht. Nun, es gab andere Wege hinunter auf das Schelf - und Tally wußte auch, wo sie zu finden waren.

Statt nach Westen, der Brücke zu, wandten sie sich in die entgegengesetzte Richtung. Es begann wieder zu schneien, pulverfeiner trockener weißer Schnee, der wie Dampf im Wind tanzte und unter ihre Kleider, in ihre Augen und die Nase kroch und sie zum Niesen reizte.

Länger als eine Stunde ritten sie durch eine Welt, die in jeder Richtung nur drei Schritte groß war und dann in wirbelnden weißen Schwaden endete. Es wurde sehr kalt, und Tally sah jetzt immer häufiger besorgt zu Hrhon zurück, der in verkrampfter Haltung auf dem Pferd hockte und sicher schon längst heruntergefallen wäre, hätte er sich nicht im Sattel festgebunden.

Endlich ließ das Schneetreiben ein wenig nach, und kurz darauf fand sie die Stelle, die ihr der Mann auf der anderen Seite der Berge beschrieben hatte - einen gewaltigen, steinernen Bogen, der in kühnem Winkel weit über die Klippe hinausreichte, wie eine Brücke, die irgendwann einmal abgebrochen war. Tally hatte bis zum letzten Moment nicht gewußt, ob ihr der Mann nun die Wahrheit gesagt oder einfach nur ihr Geld genommen und darauf vertraut hatte, daß sie ja sowieso nicht wiederkommen und ihn zur Rechenschaft ziehen würde.

Aber der Felsenbogen war da, und nach kurzem Suchen entdeckte sie auch den Höhleneingang, genau an der Stelle, die ihr beschrieben worden war.

Sie lenkte ihr Pferd in den Windschatten eines Felsens, wartete, bis Hrhon neben ihr angelangt war und boxte ihn gegen die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Waga blinzelte aus trübe gewordenen Augen zu ihr herauf.

»Du wartest hier«, befahl Tally. »Ich gehe nachsehen.

Wenn du irgend etwas Verdächtiges bemerkst, dann rufe.«

Hrhon machte eine zustimmende Handbewegung, aber Tally war klar, daß sie ebensogut mit seinem Pferd hätte reden können. Trotzdem lächelte sie aufmunternd, schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und landete um ein Haar auf der Nase, als ihre vom langen Reiten und der Kälte verkrampften Oberschenkel mit heftigen Schmerzen auf die Bewegung reagierten. Sie biß die Zähne zusammen, schlug den pelzgefütterten Mantel zurück und zog vorsichtshalber ihr Schwert aus dem Gürtel, ehe sie geduckt in die Höhle trat.

Wärme und der Geruch nach Menschen und Abfällen schlugen ihr entgegen. Im ersten Moment sah sie nichts; denn ihre Augen waren an Sand und eisverkrusteten Fels und Schnee gewöhnt. Sie blieb stehen, tastete sich mit der Linken an der rauhen Felswand entlang und lauschte gebannt.

Aus dem Hintergrund der Höhle drangen Geräusche an ihr Ohr, die nicht hierher gehörten, die sie aber nicht identifizieren konnte. Dann hörte sie Schritte, und aus den ineinander verwobenen Schatten der Höhle schälte sich eine menschliche Gestalt. In ihrer rechten Hand blitzte Metall.

»Wer da?« fragte eine Stimme. Die sonderbare Akustik der Höhle verzerrte sie, aber Tally hörte trotzdem, daß sie einem Mann gehören mußte - und keinem, den sie mögen würde, wenn er so war, wie seine Stimme klang.

»Ich suche Weller«, antwortete sie. »Bist du Weller? «

»Weller?« Der Schatten blieb stehen. Das Blitzen von Metall in seiner Hand glitt ein Stück in die Höhe. Tally spannte sich. »Hier gibt es keinen Weller«, fuhr die Stimme fort. »Wer soll das sein?«

»Ein Idiot, der meine Zeit mit dummen Spielchen verplempert«, antwortete Tally grob. »Ich soll dir Grüße von Sagor ausrichten, Weller. Er sagte, wenn ich einen Weg auf den Schelf hinab suche, der schnell und sicher ist, wäre ich bei dir richtig.«

Der Schatten bewegte sich nicht mehr, aber er antwortete auch nicht, und Tally fügte hinzu: »Ich habe Geld.«

»Ich kann dich hinunterbringen«, sagte Weller. »Aber es ist teuer. Drei Goldheller. Hast du ein Pferd?«

»Zwei«, antwortete Tally. »Und einen Begleiter. Er wartet draußen.«

»Dann acht«, sagte Weller.

»Acht?« Tally ächzte. »Du hast niemals rechnen gelernt, wie? Zweimal drei ist nicht - «

»Neun«, unterbrach sie Weller. »Und wenn du noch lange versuchst, zu feilschen, zehn. Oder sagen wir gleich zehn. Das rechnet sich besser.«

Tally schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag, denn sie hatte das sichere Gefühl, daß Weller dieses Spielchen nach Belieben weiterführen würde, bis seine Forderung eine Höhe erreichte, für die sie die Brücke kaufen konnte.

»Das ist ein stolzer Preis«, sagte sie vorsichtig. »Der Brückenzoll beträgt nur einen halben Heller - für zwei Reiter.«

»Wer zu mir kommt, hat seine Gründe, die Brücke nicht zu benutzen«, erwiderte Weller gelassen. »Ich zwinge dich nicht. Dreh um und reite hin.«

Er zuckte die Achseln, kam näher und schob das rostige Schwert in den Gürtel, das er bisher in der Hand gehalten hatte. Tally konnte jetzt sein Gesicht erkennen, und sie sah, daß ihr erster Eindruck richtig gewesen war

- Weller war ein sehr kräftiger, vielleicht fünfzigjähriger Mann mit grau gewordenem Haar und kleinen, unangenehm stechenden Augen. Sein Gesicht sah aus, als hätte vor Jahren einmal jemand versucht, es in zwei Teile zu schneiden. Daß er dazu einen ungepflegten schwarzen Vollbart trug, vermochte die Narbe nicht zu verbergen, ließ ihn aber noch wilder und unsympathischer erscheinen - ein Eindruck, vermutete Tally, den er nach Kräften pflegte. Er war ein Riese. Selbst unter dem fellgefütterten Wams, das er trug, zeichneten sich seine Muskeln noch deutlicher ab. Aber er mußte so stark sein, für die Arbeit, die er tat.

Einen Moment lang musterte er Tally durchdringend, dann nickte er und verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse, die er für ein Lächeln halten mochte. »Gut«, sagte er. »Also zehn. Dafür bekommst du und dein Begleiter noch eine warme Suppe und einen Platz an meinem Feuer. Du siehst aus, als könntest du beides gebrau-chen.«

Tally überlegte einen Moment. Wellers Angebot klang verlockend. Es war Tage her, daß sie das letzte Mal etwas Warmes zu Essen bekommen hatte. Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Ich muß gleich weiter«, sagte sie. »Wir wollen Schelfheim erreichen, ehe es dunkel wird.«

»Daraus wird nichts«, erwiderte Weller ruhig. »In einer Stunde kommt die Nachmittagspatrouille an der Klippe vorbei. Ich nehme nicht an, daß du den Reitern der Garde begegnen willst.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Tally. Und warum auch nicht? fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hatten zehn Monate gebraucht, um herauszufinden, daß es dieses Stadt überhaupt gab, und weitere vier, um sie zu erreichen. Welche Rolle spielten da noch ein paar Stunden?

»Dann geh und hol deinen Begleiter und die Pferde«, sagte Weller. »Es ist nicht gut, wenn sie zu lange draußen herumstehen. Ich werde derweil das Feuer entzünden.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und verschmolz wieder mit den Schatten der Höhle, und auch Tally ging den Weg zurück, den sie gekommen war, um Hrhon zu holen.