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Der Waga war nicht wieder eingeschlafen, wie sie befürchtet hatte, sondern aus dem Sattel gestiegen und schlurfte im Kreis herum, um sich Bewegung zu ver-schaffen. Als er ihre Schritte hörte, blieb er stehen und drehte sich schwerfällig zu ihr herum. Auf seinem flachen Schildkrötengesicht glitzerte Eis.

Tally erwartete instinktiv, seinen Atem vor dem Gesicht als grauen Dampf zu erblicken, aber sie sah nichts. Die Luft in Hrhons Lungen war so kalt wie die, die sie umgab. Obwohl sie den Anblick gewohnt war, ließ sie der Gedanke schaudern. Zum wiederholten Male fragte sie sich, was es für ein Gefühl sein mußte, wenn das Leben ganz langsam, aber unbarmherzig, im eigenen Körper erlosch.

»Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Sagor hat die Wahrheit gesagt. Nimm die Pferde und komm.«

Hrhon griff gehorsam nach den Zügeln und führte die Pferde hinter ihr in den Höhleneingang. Der Rappe scheute, als der Waga ihn in das finstere Loch zerrte, und Tally mußte sich mit einem hastigen Satz in Sicherheit bringen, um nicht von seinen wirbelnden Hufen getroffen zu werden. Aber dann schienen die Tiere die Wärme zu spüren, die aus dem Berg drang, und wehrten sich nicht mehr.

Der Stollen führte überraschend tief in die Erde hinein.

Tally schätzte, daß sie sich sicherlich eine halbe Meile weit von der Klippe entfernt hatten, ehe vor ihnen endlich die rote Glut eines Feuers sichtbar wurde. Die Luft war hier von einem unangenehmen, scharfen Geruch erfüllt, den sie nicht einordnen konnte, aber anheimelnd warm, und unter ihren Stiefeln knirschte jetzt kein Eis mehr, sondern nur noch das lose Geröll, das den Höhlenboden bedeckte.

Sie gab Hrhon ein Zeichen, zurückzubleiben, ging ein wenig schneller und fand sich nach zwei, drei Dutzend Schritten in einer gewaltigen felsigen Kuppel wieder, in deren Wände zahllose weitere Gänge mündeten. Plötzlich begriff sie, daß sie sich in einem aufgelassenen Bergwerk befand. Das rote Licht, das sie gesehen hatte, kam nicht nur von Wellers Feuer, sondern auch von mindestens einem Dutzend Fackeln, die in eisernen Hal-tern an den Wänden befestigt waren. Ihre Schritte erzeugten lang nachhallende, unheimlich verzerrte Echos unter der hohen Decke.

Weller wandte sich zu ihr um, als er sie hörte, und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen eisernen Kessel, der über dem Feuer hing. »Die Suppe ist gleich so weit«, sagte er. »Ich habe immer einen Vorrat davon bereit, vor allem im Winter, wenn - « Er brach mitten im Wort ab, starrte aus groß werdenden Augen an Tally vorbei und klappte den Unterkiefer herunter, als er Hrhon erkannte.

»He!« keuchte er. »Das... das war nicht vereinbart.«

»Was war nicht vereinbart?« fragte Tally, perfekt die Ahnungslose spielend.

»Der... der Kerl da!« stammelte Weller. Seine ausgestreckte Hand deutete anklagend auf Hrhon. »Den fahre ich nicht! Der Bursche wiegt mindestens seine dreihundert Pfund!«

»Eher vierhundert«, verbesserte ihn Tally lächelnd.

»Und ich dachte, wir wären uns über den Preis einig?«

»Du hast nicht gesagt, daß dein Begleiter ein Fischgesicht ist!« antwortete Weller zornig. »Der Kerl kann von mir aus die Klippe hinunter springen. Mit mir fährt er nicht!«

»Das solltest du dir überlegen«, sagte Tally. »Wir waren uns einig, und genau das habe ich Hrhon gesagt. Wenn er jetzt hört, daß du ihn nicht führst, könnte er denken; daß du uns betrügen willst. Er wird sehr wütend, wenn man ihn betrügt. Hast du schon einmal einen wütenden Waga erlebt, Weller?« fügte sie lächelnd hinzu.

Weller starrte sie aus flammenden Augen an, war aber klug genug, nicht mehr zu widersprechen, sondern ballte nur die Fäuste und stapfte zu seinem Feuer zurück. »Es war nicht vereinbart«, maulte er, während er zornig in seiner Suppe rührte. »Das kostet den doppelten Preis - wenn ich es überhaupt tue!«

»Du wirst es tun« versprach Tally. »Und den doppelten Preis zahle ich doch sowieso schon, oder nicht?« Sie schlug ihren Mantel zurück, trat an das Feuer heran und hielt die Hände so dichtüber die Flammen, wie es gerade nochging, ohne sie sich zu verbrennen. Weller fuhr fort, heftig in seiner Suppe zu rühren, wobei er Tally und Hrhon abwechselnd wütende Blicke zuwarf. Aber Tally wußte, daß er nicht mehr widersprechen würde. Sie hatte oft genug erlebt, wie der Anblick eines Waga auf einen Menschen wirkte.

Eine Weile saß sie einfach stumm vor dem Feuer, rieb die Hände aneinander und genoß das Gefühl, das Leben prickelnd in ihren Körper zurückkehren zu spüren. Sie merkte erst jetzt, wie kalt es auch hier drinnen war: ihr Atem erschien als unregelmäßige Folge grauer Dampfwol-ken vor ihrem Gesicht, und ihre Muskeln schmerzten, jetzt, als sie sich langsam entspannte.

»Ihr seid Betrüger«, sagte Weller plötzlich.

»Möglich.« Tally zuckte mit den Schultern. »Dann passen wir zusammen, nicht wahr? Wie viele unbedarfte Reisende hast du schon über's Ohr gehauen, Weller? Es sieht so aus, als wärst du je an der Reihe. Merk dir für die Zukunft, daß du dir deine Fahrgäste erst ansiehst, ehe du den Preis ausmachst.«

Weller hörte auf, wie besessen in der Suppe zu rühren, starrte sie einen Moment lang verdutzt an - und begann schallend zu lachen. »Du gefällst mir«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht ist der Spaß ein bißchen Schweißarbeit wert. Woher kommt ihr?«

Tally deutete in die Richtung, in der sie Süden vermutete. »Dorther.«

Weller blinzelte. »Und wenn ich jetzt frage, wohin ihr wollt, wirst du vermutlich antworten - «

Tally deutete mit dem Daumen über die Schulter und nickte. »Dorthin, richtig.«

Weller seufzte. »Nun gut, warum frage ich auch. Geht mich nichts an, oder?« Er bückte sich, hob zwei verbeulte Blechteller vom Boden auf und füllte sie mit der dam-pfenden Suppe. »Hier, das wird euch guttun.«

Tally griff nach dem Teller und begann gierig zu essen.

Die Suppe schmeckte nach nichts, aber sie war warm, und sowohl Tally als auch Hrhon verlangten einen Nachschlag, den Weller ihnen auch gab. Anschließend kuschelten sie sich nebeneinander ans Feuer, und plötzlich wurde Tally müde. Sie mußte mit aller Macht gegen den Schlaf ankämpfen, der sie übermannen wollte.

»Was sucht ihr in Schelfheim?« fragte Weller nach einer Weile.

Tally hob mühsam den Kopf und blinzelte zu ihm auf.

»Jemanden, der uns nicht mit neugierigen Fragen auf die Nerven fällt«, sagte sie matt.

Weller zog eine Grimasse. »Ich habe einen Grund, zu fragen«, sagte er. »Es gibt eine Menge neugieriger Augen und Ohren in der Stadt. Du könntest an den Falschen geraten, wenn du zu viele Fragen stellst. Möglicherweise findest du dich vor dem Stadthalter wieder...« Er seufzte. »Wenn du Informationen brauchst, kannst du sie von mir bekommen.«

»Und wer sagt mir, daß du uns nicht verrätst?«

Weller grinste. »Niemand. Außer der Tatsache vielleicht, daß ich davon lebe, verschwiegen zu sein.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment. »Du bist Tally.«

Tally setzte sich kerzengerade auf. Ihre Müdigkeit ver-flog schlagartig. »Woher weißt du das?« fragte sie.