Tally rührte sich nicht von der Stelle.
»Was ist?« fragte Weller zornig. »Willst du hier über-nachten?«
»Nein«, antwortete Tally. »Aber ich habe es mir anders überlegt. Deine Gesellschaft bereitet mir solches Vergnü-
gen, daß ich sie noch ein wenig genießen möchte. Hrhon wird als erster fahren.« Sie lächelte zuckersüß. »Immerhin ist er der schwerste von uns, nicht? Und wir wollen nicht, daß deine Freunde ihn vor lauter Erschöpfung etwa fallen lassen.«
Weller preßte wütend die Lippen aufeinander, aber er widersprach nicht, sondern sah schweigend zu, wie der Waga in den metallenen Korb kletterte und die Tür hinter sich zuzog. Auf einen weiteren Wink Wellers hin krochen die Hornköpfe an die Maschine und griffen mit klickenden Zangen nach Hebeln, die Dinge taten, die Tally nicht verstand. Ächzend und stöhnend setzte sich die Kabine wieder in Bewegung und verschwand ganz langsam in der Tiefe.
»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller. »Du würdest nicht einmal deiner eigenen Mutter trauen, wie?«
Tally antwortete nicht. Sie war ein weiteres Stück zurückgewichen und sah aufmerksam zu, wie die riesigen Termiten Wellers Maschine bedienten.
Sie hatte Hrhons Worte nicht vergessen, und etwas in ihr sagte ihr, daß sie nicht nur seinem Haß auf die Hornköpfe und seiner Erschöpfung zuzuschreiben waren. Möglicherweise sah sie auch nur Gespenster
- wenn man zu lange gejagt wurde, begann man vielleicht hinter jedem Schatten einen Feind und in jeder unbedachten Bemerkung einen Verrat zu wittern. Trotzdem ließ sie die Hand auf dem Schwert liegen und behielt Weller und seine vier Arbeiter aufmerksam im Auge, bis sich die Kette mit einem Ruck entspannte und sie wußte, daß Hrhon heil unten angelangt war.
Eine weitere Viertelstunde verging, ehe die Kabine ein zweites Mal über dem Rand des Schachtes auftauchte.
Weller riß wütend die Tür auf, noch ehe sie vollends zur Ruhe gekommen war. »Jetzt die Pferde und du«, sagte er.
Tally schüttelte den Kopf. »Nein.«
Weller wurde noch bleicher, als er ohnehin war.
»Was... was soll das?« fragte er. »Glaubst du, ich hätte meine Zeit gestohlen?«
»Nein, aber ergaunert.« Tally trat einen Schritt auf ihn zu und zog mit einer fast gemächlichen Bewegung das Schwert. »Aber vielleicht hast du recht. Deine hornigen Freunde scheinen kräftig genug, uns beide halten zu können.«
Es dauerte einen Moment, bis Weller begriff. »Uns?«
wiederholte er.
»Uns.« Tallys Schwert bewegte sich ein wenig nach oben und deutete nun genau auf seine Kehle. »Du wirst mich begleiten, Weller.«
»Das... das war nicht vereinbart«, stammelte Weller.
»Möglich. Dann ändere ich unsere Vereinbarung jetzt.
Vorwärts!« Sie unterstrich ihre Worte mit einer drohenden Bewegung, die Weller rücklings in den Gitterkäfig hineinstolpern ließ, folgte ihm mit einem raschen Schritt und zog die Tür hinter sich zu.
»Und die Pferde?« fragte Weller nervös. Sein Blick irrte unstet zwischen Tallys Gesicht und der Spitze ihres Schwertes hin und her.
»Du kannst sie behalten«, antwortete Tally. »Als Dreingabe, für die Mehrarbeit, meinetwegen. Los jetzt
- oder traust du deinen eigenen Freunden nicht mehr?«
Weller schluckte sicht- und hörbar, widersprach aber jetzt nicht mehr, sondern klatschte zweimal hintereinander in die Hände. Schaukelnd und klirrend setzte sich der Aufzug in Bewegung.
Kurz, bevor die Kabine vollends in den Schacht sank und die Dunkelheit über ihnen zusammenschlug, sah Tally noch einmal zu den Hornköpfen auf, die mit ihren gewaltigen Körperkräften Wellers Maschine bedienten, und für einen ganz kurzen Moment blickte sie genau in das glatte Horngesicht eines der Ungeheuer.
Was sie sah, ließ sie schaudern. Die faustgroßen Facettenaugen des Hornkopfes waren ausdruckslos wie geschliffene Halbkugeln aus Glas - und doch... Etwas war an diesen Hornköpfen anders als an allen, denen sie bisher begegnet war. Sie wußte nicht was, und ein Teil von ihr versuchte immer noch, sie davon zu überzeugen, daß sie sich von Hrhons Hysterie anstecken ließ. Aber sie war trotzdem überzeugt, daß mit diesen Hornköpfen etwas nicht stimmte.
Die Fahrt in die Tiefe schien endlos zu dauern. Der Gitterkorb schaukelte und schwankte wie ein kleines Boot auf stürmischer See, und mehr als einmal krachte er mit solcher Wucht gegen die Wand, daß Tally fast das Gleichgewicht verlor. Weller wurde zu einem verschwommenen Schatten zwei Schritte vor ihr, und es wurde beständig dunkler, obwohl tief unter ihnen ein heller Fleck von Tageslicht schimmerte.
»Du bist ein verdammt mißtrauisches Weib«, sagte Weller nach einer Weile. Tally konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber seine Stimme klang eher beleidigt als wirklich zornig.
»Ich habe genug bezahlt, um es sein zu dürfen«, erwiderte sie. »Außerdem lebe ich noch. Das wäre nicht so, wäre ich nicht so mißtrauisch.«
Weller lachte leise. »Ich werde nicht schlau aus dir, Tally«, sagte er. »Was hast du vor, wenn wir unten sind?
Willst du mich erschlagen?«
»Du wirst uns begleiten«, erwiderte Tally. »Nicht sehr weit. Nur bis wir in der Stadt sind.«
»Das würde euch wenig nutzen«, sagte Weller.
»Wieso?«
»Du hast noch nie eine wirklich große Stadt gesehen, wie?« vermutete Weller. »Schelfheim ist groß, und damit meine ich wirklich groß, Tally. Ihr braucht einen Führer, oder ihr seid verloren. Wohin wollt ihr überhaupt?«
»Wir suchen jemanden«, antwortete Tally nach kurzem Zögern.
»Oh.« Weller kicherte. »Nun, dann seid ihr in Schelfheim richtig. Es gibt einige hundertausend jemands in der Stadt. Weißt du seinen Namen?«
Tally nickte. Dann fiel ihr ein, daß Weller die Bewegung in der Dunkelheit ja nicht sehen konnte, und sie sagte: »Ja. Er heißt Karan.«
»Karan, der Verrückte?« Weller keuchte. »Wenn du ihn finden willst, wünsche ich dir viel Spaß. Das ist fast unmöglich, ohne jemanden, der euch durch die Stadt führt.«
»Und wieso?«
»Weil er im Norden wohnt, und das ist eine Gegend, in die sich nicht einmal die Stadtgarde wagt. Es wimmelt dort von Gesindel und Halsabschneidern, die dir für einen roten Heller den Hals umdrehen.«
»Kennst du ihn denn?« fragte Tally harmlos.
»Karan?« Weller schnaubte. »Sicher. Aber du - « Er brach ab, und trotz der pechschwarzen Finsternis glaubte Tally seine vorwurfsvollen Blicke direkt zu spüren. »Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht«, gestand er nach einer Weile. »Jetzt wirst du darauf bestehen, daß ich dich hinführe.«
»Ja«, sagte Tally ruhig. »Das werde ich wohl.«
Weller schnaubte. »Verdammt, ich werde nicht schlau aus dir, Tally«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich dich verfluchen oder deine Gerissenheit bewundern soll. Du wärst ein würdiger Partner für mich. Aber du bist dabei, mich zu ruinieren, ist dir das klar? Wer ersetzt mir den Verdienstausfall, während ich den Fremdenführer für dich spiele?«