Irgend etwas zischte dicht über Tallys Kopf durch die Luft, riß eine dünne, blutige Spur in Brakus Gesicht und bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in die Brust des hinter ihm stehenden Mannes. Der Klorscha keuchte, taumelte einen halben Schritt zurück und brach in die Knie. Seine Hände umklammerten den gefiederten Bolzen, der aus seiner Brust ragte.
»Die Garde!« brüllte jemand.
In der schmalen Gasse brach die Hölle los. Plötzlich war die Luft voller sirrender, tödlicher Geschosse, und ebenso plötzlich begannen Brakus Männer durcheinan-derzuschreien und -laufen. Ein zweiter und dritter Klorscha fielen, und irgend etwas sirrte mit einem ekelhaften Geräusch an Tallys Ohr vorbei und schlug Funken aus der Wand, vor der sie stand.
Tally ließ sich blitzartig zur Seite fallen, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und sah gerade noch, wie Braku seine Keule hochriß und mit einem urgewaltigen Schrei auf ein schwarzes, gehörntes Etwas losging, das wie ein Dämon aus der Nacht aufgetaucht war.
Er führte den Hieb niemals zu Ende. Ein ganzes Dutzend Pfeile und Bolzen senkte sich mit tödlicher Präzision auf ihn herab. Und plötzlich machte der gewaltige Vorderlauf der Beterin eine blitzartige, schnappende Bewegung, und Braku war nur noch ein kopfloser Torso, der mit einer grotesk langsamen Bewegung nach hinten kippte. Dann richtete sich der Blick der faustgroßen Facettenaugen auf Tally.
Hinter der ersten Beterin erschienen die häßlichen Schädel weiterer Hornköpfe, groteskerweise von kleinen, albern aussehenden Helmen aus glänzendem Metall gekrönt, und auch vom anderen Ende der Gasse erscholl das helle, widerwärtige Pfeifen der Rieseninsekten. Tally wich mit einem hastigen Schritt bis zur Wand zurück, duckte sich unter einem Pfeil hindurch und zerrte verzweifelt das Schwert aus dem Gürtel.
Die Klinge prallte funkensprühend gegen den gewaltigen Schlagarm der Beterin. Der Hieb verfehlte sein Ziel, und Tallys Kopf blieb, wo er war, aber die Wucht des Schlages ließ Tally auch zurücktaumeln und auf die Knie herabsinken. Ihre Hand war gelähmt. Sie hielt das Schwert noch fest, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, es zu heben.
Wieder einmal war es Hrhon, der sie rettete. Der Waga sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Rücken der Beterin, verschränkte die Fäuste über dem Kopf und ließ sie mit fürchterlicher Wucht in den Nacken des Rieseninsektes krachen. Einen Sekundenbruchteil stand der Hornkopf einfach da wie ein groteskes Pferd, auf dessen Rücken ein noch groteskerer Reiter hockte. Dann gaben seine dürren Beine nach, und Hrhon kugelte hilflos davon, während die Beterin zusammenbrach und Tally dabei halbwegs unter sich begrub.
Als sie es geschafft hatte, sich unter dem reglosen Rieseninsekt hervorzuarbeiten, hatte sich die Gasse in einen Hexenkessel verwandelt. Die Klorschas, die nicht bereits dem ersten Pfeilhagel zum Opfer gefallen waren, wehrten sich verzweifelt und mit erstaunlicher Behendigkeit gegen die Hornköpfe, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Die Beterinnen wüteten wie die Berserker unter den zerlumpten Gestalten, und ihr gewaltiger Chitinpanzer machte sie so gut wie unverwundbar. So gnadenlos der Kampf geführt wurde, er konnte nur noch Augenblicke dauern. Von Brakus Streitmacht war nicht einmal mehr die Hälfte am Leben - und von beiden Seiten der Gasse näherten sich immer mehr der gigantischen Kampfinsekten!
Tally arbeitete sich keuchend in die Höhe, schob das Schwert in den Gürtel zurück, zog statt dessen Mayas Waffe und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß sie sie nicht im Stich lassen würde.
Tally machte sich nichts vor - trotz dieser entsetzlichen Waffe waren ihre Chancen, die Gasse lebend zu verlassen, erbärmlich. Von der Garde, deren Name eine der Klorschas geschrien hatte, war keine Spur zu sehen, aber Tally hätte in diesem Moment liebend gerne eine Hundertschaft der Schelfheim-Krieger gegen die zwei Dutzend Rieseninsekten eingetauscht, die von beiden Seiten auf sie eindrangen.
Im Grunde war es ein Zufall, der sie rettete. Die Mauer aus Klorschas, die den Hornköpfen bisher noch erbittert Widerstand geleistet hatten, zerbrach endgültig, und plötzlich sah sich Tally gleich zwei der gigantischen schwarzen Scheusale gegenüber. Sie schoß, sprang hastig zur Seite und feuerte wieder, als die zweite Beterin mit schnappenden Fängen auf sie eindrang. Diesmal traf sie ihr Ziel nicht ganz - einer der gewaltigen Keule-narme der Beterin wurde pulverisiert, aber hinter dem Hornkopf flammte die Wand auf und spie einen Regen aus Glut und brennendem Holz in die Gasse. Ein handbreiter Riß spaltete das Haus vom Dach bis zu den Grundfesten.
»Hrhon!« schrie Tally. »Weller! Zu mir!« Sie wirbelte herum, setzte über ein brennendes Etwas aus schwarzem Horn hinweg und schoß noch einmal; jetzt nicht mehr auf einen Hornkopf, sondern gezielt auf das Haus.
Die Wand zerplatzte wie unter einem Hammerschlag.
Grellweiße Flammen schossen in die Höhe und verwan-delten die Gasse in eine zuckende Hölle aus ineinanderfließenden Schatten. Tally hetzte weiter, atmete noch einmal tief ein - und sprang mit einem gewaltigen Satz durch die Flammenwand.
Hitze, ungeheuere, unvorstellbar schreckliche Hitze hüllte sie ein. Die Luft in ihren Lungen schien zu kochender Lava zu gerinnen. Etwas schrammte schmerzhaft an ihren Rippen entlang, ein Stück glühendes Holz versengte ihr Haar. Sie sah einen Schatten auf sich zurasen, versuchte sich instinktiv abzurollen und prellte mit entsetzlicher Wucht gegen einen stehengebliebenen Mauer-rest.
Der Aufprall raubte ihr fast das Bewußtsein. Tally blieb einen Moment benommen liegen, dann stemmte sie sich hoch, fegte hastig die Glut beiseite, die auf ihr Haar und ihren Mantel heruntergefallen war, und sah sich um.
Sie befand sich inmitten eines Flammenmeeres. Die Drachenwaffe hatte nicht nur die Wand des Hauses pulverisiert, sondern auch hier drinnen alles kurz und klein geschlagen und in Brand gesetzt, was nur brennen konnte. Die Hitze war unerträglich, obwohl der Brand erst seit Sekunden wütete. Ein verkrümmter Körper lag dicht neben ihr, bis zur Unkenntlichkeit veschmort, aber noch im Tode eine gewaltige Axt umklammernd, und vor dem mannshohen Loch in der Wand rangen Schatten miteinander.
Sie stemmte sich hoch, schlug die Flammen aus, die an einem Zipfel ihres Umhanges leckten, und hob schützend die linke Hand vor das Gesicht, während sie tiefer in den verwüsteten Raum hineinstolperte. Sie konnte kaum mehr sehen. Das Feuer, das die unsichtbaren Blitze der Drachenwaffe entfacht hatten, brannte viel heller und heißer als irgendein anderes Feuer, daß sie jemals erlebt hatte. Und es griff mit phantastischer Schnelligkeit um sich.
Beißender, blauer Rauch verpestete die Luft. Glühende Holzsplitter und Flammen regneten von der Decke, und als sie sich der gegenüberliegenden Tür näherte, brach sie durch die morschen Dielen. Hätte es einen Keller unter dem Haus gegeben, hätte sie sich vermutlich zu Tode gestürzt; so aber brach sie nur bis an die Knie ein und fand auf einem widerlich schwammigen Boden Halt.
Hastig befreite sie sich, trat mit einer wütenden Bewegung die Tür ein und schoß blindlings ihre Waffe ab.
Irgendwo auf der anderen Seite explodierte etwas. Grelles Licht und kleine, gelborangene Flammenzungen schlugen ihr entgegen, als sie die Reste der Tür mit der Schulter beiseitestieß.
Vor ihr erstreckte sich ein niedriger, fensterloser Gang, der bis vor wenigen Sekunden am Fuß einer hölzernen Treppe geendet hatte. Jetzt ragten nur noch die obersten vier oder fünf Stufen zerfetzt und brennend aus der Decke, und wo die Wand gewesen war, gähnte ein gewaltiges Loch mit glühenden Rändern. Dahinter war eine weitere schmale Gasse zum Vorschein gekommen.