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Als sie sich ihrem Ziel zu nähern begannen, hörte Tally ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen. Zu Anfang war es so leise, daß es fast im Klicken und Rasseln des Insektenstromes unterging. Aber es schwoll an, bis es das Chitinwispern der Träger zu übertönen begann, und nach einer Weile glaubte sie, den Boden unter den Füßen ihres Tieres im Rhythmus dieses Geräusches zittern zu fühlen.

»Was ist das, Weller?« schrie sie über den Lärm hinweg.

Weller drehte sich schwerfällig im Sattel herum.

»Was?« antwortete er schreiend. »Dieser Lärm?« Tally nickte, und Weller fuhr mit einer vagen Geste nach Norden hin fort: »Der Hafen. Mach dich auf eine Überraschung gefaßt! Und stell zum Teufel noch mal nicht so viele dumme Fragen. Wir fallen auf!«

Tally verbiß sich die wütende Antwort, die ihr auf der Zunge lag - schon allein, weil sie mit vollem Stimmauf-wand hätte schreien müssen, um sie hervorzubringen.

Nach allem, was sie bisher mit Weller erlebt hatte, schien er höchst sonderbare Vorstellungen von der Bedeutung des Wortes unauffällig zu haben. Aber wenige Augenblicke später bog der Träger in eine schmale Seitenstraße ein, und was Tally sah, ließ sie ihre Verärgerung im Moment vergessen, denn unter ihnen lag der Hafen von Schelfheim.

Sie hatte sich bisher niemals Gedanken über die Bedeutung des Wortes Hafen gemacht; irgendwie hatten sich die beiden Vorstellungen, daß Schelfheim am Schlund lag und daß Wasser prinzipiell das Bestreben hatte, bergab zu fließen, in Tallys Bewußtsein nicht zu der Unmöglichkeit vereint, die sie darstellten. Bis jetzt.

Tally starrte ihn wütend an. »Was soll das?« fragte sie.

»Wenn ich einen Fremdenführer gebraucht hätte, der mir die Sehenswürdigkeiten von Schelfheim zeigt, hätte ich einen engagiert, Weller. Warum hast du uns hierher bringen lassen, wenn Karan drei Stunden entfernt wohnt?«

»Deshalb.« Weller deutete mit einer Kopfbewegung auf den Träger, der jetzt schwerfällig seine Flügeldecken zusammnenfaltete und sich auf der Stelle zu drehen begann. »Ich traue deiner Freundin Jandhi nicht, weißt du? Diese Biester sind zwar strohdumm, aber sie merken sich jeden Weg, den sie einmal gegangen sind. Wenn er zurück ist, braucht Jandhi nur auf seinen Rücken zu steigen, und er führt sie hierher.« Er grinste. »Aber bis dahin sind wir längst Meilen entfernt.«

»Und Hrhon?« fragte Tally. »Wir wollten uns hier mit ihm treffen.«

»Er kann frühestens beim Sonnenuntergang hier sein«, antwortete Weller ungeduldig. »Er ist ein Waga, vergiß das nicht. Nicht-Menschen bekommen keine Träger in Schelfheim. Er muß wohl oder übel laufen. Aber wir sollten die Zeit nutzen, zu Karan zu gehen und mit ihm zu reden. Wenn wir ihn finden, heißt das.«

Tally starrte ihn wütend an, aber sein Grinsen verriet ihr, daß er zumindest den letzten Satz nur gesagt hatte, um sie zu reizen. So schwieg sie und trat nur finsteren Blickes neben ihn, als er sich umwandte und in die Richtung zu gehen begann, aus der sie gerade gekommen waren.

Sie konnte Wellers Vorsicht sogar verstehen - auch ihr war die Freundlichkeit, mit der Jandhi sie behandelt hatte, noch immer ein Rätsel, und es hätte sie keineswegs überrascht, wenn Weller recht gehabt hätte und dies alles wirklich nur eine geschickt aufgestellte Falle war, in der sie und Hrhon sich fangen sollten. Trotzdem nahm ihre Verärgerung noch zu; denn sie gingen mindestens eine Meile auf genau dem Weg zurück, den der Träger sie hergebracht hatte, ehe sie schließlich nach Norden abbogen und sich wieder dem Schlund näherten. Tally fragte sich, warum sie nicht einfach vom Rük-ken des Tieres gesprungen waren, als sie an dieser Stelle vorbeikamen, und sie stellte die gleiche Frage Weller, der sie aber nur als sei sie nicht ganz richtig im Kopf, anstarrte, und es vorzog, gar nicht zu antworten.

Je weiter sie sich vom Hafen entfernten, desto zahlreicher wurden die Menschen, denen sie begegneten.

Wenn sich die Häuser in der Nähe des Wasserfalles auch aus reiner Platznot bis an den Abgrund herangeschoben hatten, so spielte sich das Leben dort doch zum allergrößten Teil hinter ihren Mauern ab - wer hatte schon Lust, dachte Tally, bei jedem Atemzug Wasser zu atmen und ständig das Gefühl zu haben, sich auf den Grund eines besonders dünnflüssigen Meeres verirrt zu haben.

Zwei Meilen westlich des Hafens war dies anders. Zwar übertönte das Grollen und Dröhnen des Wasserfalls auch hier jeden anderen Laut, und wenn sie sich darauf konzentrierte, so konnte sie auch hier noch das Zittern und Beben des Bodens spüren, aber die Straßen waren doch wieder voller Leben. Weller wurde immer schweigsamer, je weiter sie in diesen Teil der Stadt eindrangen, und er ging jetzt dichter neben ihr.

Tally konnte ihn gut verstehen. Was sie sah, erschreckte die Frau in ihr, und es ließ die Kriegerin vorsichtiger werden. Die Häuser waren hier allesamt alt und grau und so schmutzig, daß der Slam dagegen wie eine gepflegte Parklandschaft wirken mußte, und manche Straßen waren so mit Abfällen übersät, daß sie über Berge von Müll und Unrat steigen mußten, wollten sie nicht große Umwege in Kauf nehmen. Es gab fast ebensoviele Ratten wie Menschen - und beinahe keine Frauen.

Es dauerte eine Weile, bis Tally dieser Umstand auffiel, und eigentlich waren es auch eher die teils verwunderten, teils aber auch eindeutig gierigen Blicke, die ihr folgten, die sie überhaupt darauf aufmerksam werden ließ, daß hier fast nur Männer zu sehen waren. Von den beiden einzigen Frauen, die ihnen in den gut zwei Stunden ihres Marsches begegnete, war die eine uralt, eine Greisin, die sich schwer auf einen Stock stützte und trotzdem kaum vorwärts kam, die andere etwa in Tallys Alter, aber in Männerkleidung gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet. Ihr Gesicht war vernarbt und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie glaubte plötzlich besser zu verstehen, warum Weller sie gewarnt hatte, in dieser Stadt offen sichtbar eine Waffe zu tragen.

Und sie sehnte sich jetzt mehr denn je danach zurück.

Als sie nach einer Weile von der belebten Hauptstraße abbogen und eine Abkürzung durch eine kaum meterbreite Gasse nahmen, befahl sie Weller mit einer Geste stehenzubleiben.

»Mein Schwert«, sagte sie.

Weller zögerte. »Du erregst auch so schon genug Aufsehen«, sagte er, »Ich halte es für keine gute Idee, wenn du einen Waffe trägst.«

»Ich schon«, erwiderte Tally kurz angebunden.

»Außerdem werde ich es unter dem Mantel verstecken.

Aber diese Gegend gefällt mir nicht. Hier läuft zu viel Kroppzeug herum.«

Weller lachte. »Dann warte, bis wir in der Altstadt sind«, sagte er, griff aber gehorsam unter sein Cape und zog Tallys Schwert hervor. Sie schüttelte den Kopf, als er ihr die Klinge reichen wollte.

»Das andere«, sagte sie. »Das, das ich dem Katzer abgekauft habe. Das da kannst du behalten.«

Weller gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verhehlen. »Sagtest du nicht irgend etwas von einem Geschenk für mich?« fragte er schüchtern.

»Jandhi hat das gesagt, nicht ich«, verbesserte ihn Tally. »Geh zurück und beschwer dich bei ihr.«

Weller lächelte gequält, zog die Silberklinge unter dem Umhang hervor und sah stirnrunzelnd zu, wie sie es in den Waffengurt schob und beides umband. Ihr eigenes, altes Schwert hielt sie ihm hin. Weller schüttelte den Kopf, und Tally warf die Klinge achtlos zu Boden. Sie schloß ihren Mantel sorgfältig wieder, tastete durch den schweren Stoff nach der Waffe und rückte sie zurecht, so daß sie sie mit einem Griff ziehen konnte, der Stahl sich aber nicht zu deutlich unter dem Mantel abzeichnete.