Aber ihr blieb keine Zeit, der Schwäche nachzugeben.
Der Lärm aus dem Gasthaus nahm zu. Irgend jemand begann mit schriller, überschnappender Stimme zu schreien: »Sie hat Angella umgebracht!« und als sie die Augen öffnete, sah sie einen massigen Schatten, der ungeschickt durch das zerborstene Fenster zu klettern versuchte.
Tally atmete noch einmal tief ein, stieß sich von der Wand ab und begann wie von Furien gehetzt zu rennen.
Es war pures Glück, das sie die nächsten Stunden überleben ließ. Tally rannte blindlings los, bis sie einfach nicht mehr weiter konnte. Eine Zeitlang waren noch die Schritte ihrer Verfolger hinter ihr, aber irgendwie gelang es ihr, sie abzuschütteln, und irgendwie gelang es ihr sogar, nicht vollends die Orientierung zu verlieren und zumindest die Richtung beizubehalten, in der Weller Karan vermutete - Norden. Aber schließlich wurden Schwäche und Übelkeit so stark, daß sie stürzte und minutenlang einfach dort liegenblieb, wo sie war.
Sie war in diesen Augenblicken so hilflos wie niemals zuvor, aber wieder hatte sie Glück: die Gasse, in der sie sich befand, war menschenleer, und das einzige Leben, das sich regte, war eine halbverhungerte Katze, die Tallys Gesicht beschnüffelte und sich trollte, als das Kitzeln ihrer Barthaare die junge Frau stöhnen, die Augen öffnen und sich umsehen ließ.
Es war sehr kalt geworden. Es mußte Mitternacht sein, wenn nicht später, und der Himmel hatte sich wieder mit Wolken bezogen. Weit im Norden über dem Schlund fiel Schnee, und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen.
Tallys Beine fühlten sich abgestorben und taub vor Kälte an. Als sie aufstehen wollte, gelang es ihr nicht sofort; sie fiel mit einem Schmerzlaut wieder auf die Knie herab, blieb einen weiteren Moment hocken und raffte das bißchen Kraft zusammen, das sie noch in ihrem geschundenen Körper fand, ehe sie sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe stemmte.
Die Gasse umgab sie wie eine Schlucht aus Schwärze.
Für einen Moment drohte sie vollends die Orientierung zu verlieren; sie wußte nicht einmal mehr, in welcher Richtung Norden lag. Dann klärte sich ihr Blick ein klein wenig, und sie ging los.
Zum erstenmal, seit sie die Gaststube verlassen hatte, nahm sie ihre Umgebung bewußt wahr; zumindest das, was die Dunkelheit sie sehen ließ. Es war wenig genug: Schelfheim hatte sich in eine schweigende Herde buckeliger schwarzer Schatten verwandelt, zwischen denen sich manchmal etwas zu bewegen schien, aber stets verschwand, wenn sie genauer hinsah.
Es wurde auch nicht besser, als sie die Gasse verließ und auf den kleinen, halbrunden Platz hinaustrat, auf den sie mündete. Die Häuser - manche von ihnen schienen auf sonderbare Weise schräg dazustehen, als hätte der Boden begonnen, sie aufzusaugen - lagen dunkel da; nur hier und da sickerte ein wenig Licht durch vorgelegte Läden oder unter einer Tür hindurch. Aber Tally verwarf den Gedanken, an eine dieser Türen zu klopfen und um Hilfe zu bitten, beinahe ebenso rasch wieder, wie er ihr gekommen war. Ihr Bedarf an Begeg-nungen mit den Bewohnern dieses Stadtteiles war fürs erste mehr als gedeckt.
Aber sie brauchte Hilfe. Allein hatte sie nicht die mindeste Chance, Karan zu finden.
Wieder blieb sie stehen, lehnte sich erschöpft gegen eine Wand und schloß für einen Moment die Augen.
Müdigkeit und Schwäche wollten sie erneut übermannen, aber diesmal gab sie ihnen nicht nach. Sie wartete nur, bis das Zittern ihrer Hände und Knie halbwegs aufgehört hatte, dann öffnete sie ihren Mantel, streifte das Kleidungsstück ab und begann schmale Streifen aus dem Saum ihres Kleides zu reißen.
Sorgfältig verband sie all die kleineren und größeren Wunden, die sie davongetragen hatte, und umwickelte zum Schluß auch ihre nackten Füße mit zusammenge-drehten Stoffstreifen - alles andere als ein Ersatz für Schuhe, aber immerhin ein gewisser Schutz vor der Kälte. Schließlich streifte sie ihren Mantel wieder über, legte den linken Arm in die provisorische Schlinge, die sie geknotet hatte, und ging weiter.
Eine Stunde später erreichte sie den Rand der Welt.
Die Straße hörte so jäh auf, daß Tally mit einem erschrockenen Laut zurückprallte. Es gab keine Mauer, kein Geländer, keine irgendwie geartete Warnung: wo sie stand, war der eiskalte glatte Fels des Kopfsteinpflasters, und zwei Schritte weiter gähnte das Nichts, ein fünf oder auch fünfzig Meilen tiefer Abgrund, der schon nach wenigen Schritten mit der Nacht verschmolz.
Tally starrte mit klopfendem Herzen in die Leere hinaus. Das also war der Schlund, das große Nichts, die Klippe, an der die Welt aufhörte. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, am Morgen desselben Tages, vom Rük-ken des Trägers aus, aber selbst da hatte noch eine halbe Meile zwischen ihr und dieser Alptraumklippe gelegen.
Sie war sicher gewesen; der Schlund ein Alptraum, der entsetzlich, aber ungefährlich war. Jetzt war sie ihm ganz nahe.
Sie spürte den Sog der Tiefe, das Zittern der Milliarden Tonnen Fels unter ihren Füßen, an denen der Wind und die Ewigkeit zerrten, und das leise, verlockende Wispern am Grund ihrer Seele... Fast ohne es selbst zu merken, ging sie die zwei Schritte bis zur Klippe und blieb erst stehen, als vor ihren nackten Zehen nichts mehr war.
Unter ihr lag Schwärze, eine so tiefe, allumfassende Schwärze, wie sie sie niemals zuvor erblickt hatte. Etwas schien sich in dieser Dunkelheit zu bewegen, ein gewaltiger Strudel aus Nichts, der sich schwarz auf noch dunkle-rem Hintergrund drehte, der lockte und rief...
»Ich würde das nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Tally fuhr erschrocken zusammen, wurde sich plötzlich der Gefahr bewußt, in der sie sich befand, und trat hastig einen Schritt von der Klippe zurück. Erst dann drehte sie sich herum. Unter dem Mantel tastete ihre Hand nach dem Schwert. Aber sie spürte, daß sie einen weiteren Kampf jetzt nicht mehr durchstehen würde.
»Wer... ist da?« fragte sie stockend.
Ein dunkler, nicht sehr großer Umriß löste sich aus den Schatten der Häuser. Tally erkannte hellblondes, kurzgeschnittenes Haar, ein Paar dunkler, durchaus freundlicher Augen, eine Hand, die lose auf einem Schwert lag.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Fremde.
Er lachte leise. »Aber ich glaube, du hast sowieso vor nichts mehr Angst, wie?«
Tally verstand nicht, was die Worte des Fremden bedeuteten. Aber sie glaubte zu spüren, daß er wirklich nichts übles wollte.
»Es geht mich zwar nichts an«, fuhr er fort, »aber wenn du meine Meinung hören willst, wäre es falsch.« Er machte eine Kopfbewegung auf den Schlund. »Und es ist nicht einmal so leicht, wie die meisten glauben. Der Sturz dauert sehr, sehr lange.«
Endlich begriff Tally. Aus irgendeinem Grunde war der Fremde wohl der Ansicht, sie wäre hierher gekommen, um in den Schlund zu springen - in einer Stadt wie Schelfheim sicherlich eine sehr beliebte Methode, seinem Leben ein Ende zu bereiten.
»Du täuschst dich«, sagte sie. »Ich... ich bin nicht hier, um zu springen.«