»Gleich«, sagte Tally, machte einen Schritt, fiel erschöpft auf die Knie herab und fügte hinzu: »Sobald ich mich erholt habe. Beim Schlund, wie kann ein Mensch hier leben?«
»Es ist sicherer als oben«, antwortete Jan lächelnd.
»Und so, wie du aussiehst, solltest du das wissen. Du bist Tally, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?« entfuhr es Tally.
»Weil ich dich gesucht habe«, antwortete Jan. »Als ich hörte, daß dieser Idiot Weller dich im Grünen Frosch zurückgelassen hat, habe ich mich auf den Weg gemacht.
Nach dem, was ich dort gesehen habe, dachte ich schon, ich käme zu spät.« Er beugte sich vor, half ihr auf die Füße und blickte sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge an. »Weißt du eigentlich, wen du da erledigt hast?« fragte er.
Tally schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Und es interessiert mich auch nicht. Bring mich zu Karan.«
Jan zögerte, zuckte aber dann nur die Achseln und wies mit einer einladenden Geste hinter sich, wo eine weitere, diesmal allerdings aus massivem Stein gebaute Treppe in die Tiefe führte. An ihrem Ende glomm warmes gelbes Licht, und als Tally der Einladung folgte und die Stufen hinabging, fühlte sie die prickelnde Berührung angenehm warmer Luft.
Weller und Karan saßen an einem Tisch und debattier-ten erregt, als Tally den Raum betrat. Karan - wenigstens vermutete sie, daß der verkrüppelte Alte Karan war
- reagierte überhaupt nicht, aber Weller sprang auf, starrte sie einen Moment betroffen an und kam dann mit hastigen Schritten auf sie zu. »Tally!« keuchte er. »Was tust du hier? Du solltest auf mich warten! Bist du lebensmüde?«
»Das wäre sie wohl, hätte sie getan, was du verlangt hast, du Idiot«, sagte Jan kalt. »Wenn ich sie nicht gefunden hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.«
Weller setzte zu einer wütenden Entgegnung an. Aber dann wich der Zorn in seinem Blick jähem Erschrecken, als er Tallys bandagierten Arm sah, und den erbar-mungswürdigen Zustand, in dem sie sich befand. »Was ist passiert?« fragte er.
»Nichts«, murmelte Tally. Plötzlich spürte sie die Wärme überdeutlich, beinahe schon unangenehm. Das Haus schien unter ihren Füßen zu wanken. Müdigkeit schlug wie eine lähmende Woge über ihr zusammen. Sie fühlte, daß ihr gleich übel werden würde. »Eine kleine... Meinungsverschiedenheit, mehr nicht.«
»Sie hat Angella und drei ihrer Männer erschlagen«, sagte Jan ruhig.
Zum erstenmal, seit sie das Zimmer betreten hatten, zeigte nun auch Karan eine Reaktion: in seinem Blick erschien ein Ausdruck von Unglauben, dann schierem Entsetzen, und auch Weller erbleichte noch weiter.
Aber Tally registrierte all dies nur noch am Rande.
Plötzlich fühlte sie sich nur noch schwach und müde.
Jan konnte gerade noch hinzuspringen und sie auffangen, als sie das Bewußtsein verlor.
Sie verschlief die Nacht, den nächsten Tag und die dar-auffolgende Nacht, und hätte Weller sie nicht schließlich geweckt, hätte sie wahrscheinlich auch noch den nächsten Tag mit Schlafen zugebracht. Und trotzdem fühlte sie sich nur müde, als sie erwachte, und fast noch erschlagener als zuvor.
Es fiel ihr schwer, sich auf alles zu besinnen, was geschehen war, und als Weller sie ansprach, reagierte sie nur mit einem gereizten Knurren, das ihn davon abhielt, sie abermals in ein Gespräch verwickeln zu wollen.
Übellaunig fragte sie ihn nach einer Waschgelegenheit, tastete sich auf unsicheren Beinen hinter ihm her und verbrachte fast eine halbe Stunde damit, Gesicht und Handgelenke immer wieder in das eiskalte Wasser zu tauchen, bis die Benommenheit ganz allmählich zu weichen begann.
Jemand hatte ihre Wunden versorgt, während sie geschlafen hatte. Die meisten waren ohnehin nur Kratzer gewesen, die in wenigen Tagen von selbst verheilt sein würden, nur der Schnitt in ihrer Schulter mußte sehr tief sein, denn sie konnte den Arm kaum bewegen, und wenn, dann nur unter erheblichen Schmerzen.
Der Anblick des straffen, sehr sauberen Verbandes weckte die Erinnerungen, und je weiter sich die Benommenheit, die von zu langem Schlaf herrührte, von ihrem Bewußtsein hob, desto mehr besann sie sich darauf, was geschehen war. Die Erinnerungen erfüllten sie nicht unbedingt mit Wohlbehagen - sicher, sie lebte und war als Siegerin aus dem Kampf hervorge-gangen, aber sie hatte alles andere als eine gute Figur gemacht. Um ein Haar wäre sie von einem Kind erschlagen worden.
Tally beendete ihre Morgentoilette, sah sich nach irgend etwas um, das sie anziehen konnte, und gewahrte zu ihrer großen Freude ihre eigenen, sauber gewaschenen Kleider auf einem Hocker gleich neben der Tür. Rasch zog sie sich an, zwängte ihre noch immer geschwollenen Füße in die Stiefel und band den Waffengurt um. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich nicht mehr schutzlos und nackt.
Das Haus war sehr still, als sie die kleine Wasch-haube verließ und sich auf die Suche nach Weller und Karan machte. Das Zimmer, in dem sie aufgewacht war, hatte kein Fenster, sondern nur einen verglasten runden Lichtschacht unter der Decke, aber als sie es durchquerte und die nach oben führende Treppe hinaufstieg, sah sie eine Art Schießscharte, dreieckig und an der breitesten Stelle kaum breiter als ihre Hand. Neugierig blieb sie stehen und blickte hinaus.
Eine Sekunde später wünschte sie sich, es nicht getan zu haben.
Unter ihr war - nichts.
Ihr Erinnerungsvermögen schien noch nicht vollends wiederhergestellt zu sein, denn sie besann sich erst jetzt darauf, auf welch abenteuerliche Weise sie Karans Haus erreicht hatte - das Haus, das wie ein Schwalbennest an die Klippe geklebt war, zehn Meter unter ihrer oberen und vermutlich ebensoviel Meilen über ihrer unteren Kante.
Tally schwindelte, als sie auf die gigantische blauweiße Einöde unter sich hinabblickte. Das Wetter hatte aufge-klart, und es war Tag, aber sie sah trotzdem kaum mehr als in der Nacht. Irgendwo, unendlich tief unter ihr, war etwas, etwas Grünes und Blaues und Weißes, aber sie konnte nicht sagen, was. Dafür hatte sie plötzlich erneut das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen schwanken zu fühlen.
Hastig trat sie vom Fenster zurück, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und ging weiter. Ihre Knie zitterten.
Karan und Weller erwarteten sie in dem Zimmer, in dem sie sie auch das erste Mal angetroffen hatte. Im Kamin prasselte ein behagliches Feuer, und der Tisch war reich gedeckt. Das benutzte Geschirr vor Weller und dem alten Mann verriet, daß die beiden mit dem Früh-stück nicht auf sie gewartet hatten, aber der Anblick der Speisen ließ Tally auch spüren, wie hungrig sie war.
Ohne große Umstände setzte sie sich, zog einen Teller und die Brotschale heran und begann zu essen. Weller beobachtete sie stirnrunzelnd, während Karan mit ausdrucksloser Mine an ihr vorbei durch das große Fenster blickte, unter dem sich der Schlund ausbreitete. Tally blickte ganz bewußt nicht in die gleiche Richtung.
Es vergingen gute zehn Minuten, bis sie ihren ärgsten Hunger gestillt hatte und den Teller zurückschob. Weller beobachtete sie noch immer, und auch Karan hatte den Blick endlich vom Fenster losgerissen und blickte sie an.
Zum erstenmal sah Tally den alten Mann wirklich aus der Nähe.