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Sie revidierte ihre Meinung, was sein Alter anging, um etliche Jahre nach unten. Karan war alt - sicherlich fünfzig Jahre - aber sein Gesicht war so wettergegerbt und von Runzeln und tief eingegrabenen Linien durchzogen, daß er auf den ersten Blick viel älter wirkte. Er schien ein sehr harter Mann zu sein, ohne dadurch unsympathisch zu wirken. Auf seinem Kopf waren nur noch wenige, spärliche Haare, aber dafür trug er einen um so gewaltigeren Bart. Außerdem hatte er Segelohren.

»Hat es geschmeckt?« fragte er, als Tally keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen, sondern ihn nur unverblümt anstarrte.

Tally nickte. »Es war sehr gut. Entschuldige, wenn ich unhöflich war. Aber ich war sehr hungrig. Du bist Karan?«

Karan machte eine weit ausholende Handbewegung.

»Du hast Karans Haus gesucht und es gefunden«, sagte er. »Du hast in seinem Bett geschlafen, hast sein Essen gegessen und wärmst dich an seinem Feuer. Also bin ich Karan.«

Tally blinzelte.

»Mach dir nichts draus«, sagte Weller. »Er spricht immer so komisch. Habe ich dir schon gesagt, daß er verrückt ist?«

Karan schenkte ihm einen bösen Blick und wandte sich wieder an Tally. »Dieser Narr da sagt, du und dein Waga habt mich gesucht?«

»Hrhon?« entfuhr es Tally. »Hrhon ist hier? Wo?«

Ganz instinktiv sah sie sich um, aber natürlich war der Waga nicht hier im Zimmer.

»Nicht hier«, sagte Karan kopfschüttelnd. »Kein Schildkrötengesicht betritt mein Haus. Aber er war da und wird wiederkommen, wenn ich nach ihm rufe.«

Weller warf ihr einen warnenden Blick zu - der Karan keineswegs entging - und Tally schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. »Zuerst einmal möchte ich mich für deine Hilfe bedanken, Karan«, sagte sie. »Ohne dich und den jungen Mann - «

»Jan«, unterbrach sie Karan. »Er ist Karans Sohn, und sein Name ist Jan.«

»Ohne dich und Jan«, fuhr Tally fort, »wäre ich jetzt vielleicht tot.«

»Nicht vielleicht«, korrigierte sie Karan. »Ganz bestimmt. Und Schuld daran ist dieser Narr da. Selbst ein Kind weiß, daß man kein Mädchen allein läßt, in Angellas Gebiet.«

»Angella«, wiederholte Tally nachdenklich. »Das Mädchen mit dem Narbengesicht, das ich getötet habe. Wer war sie?«

»Frage Karan lieber, wer sie ist«, sagte Karan. Tally seufzte. Karans Art, von sich selbst in der dritten Person zu reden, begann ihr auf die Nerven zu gehen. Erst dann begriff sie, was seine Worte bedeuteten.

»Sie... lebt?« fragte sie zweifelnd.

Karan nickte. »Und sie tobt vor Wut. Du hast sie erniedrigt, Mädchen, und du hast sie besiegt, vor den Augen ihrer eigenen Leute. Das kann sie nicht hinnehmen.

Sie wird dich töten.«

»Wer ist diese Frau?« fragte Tally, an Weller gewandt.

Weller seufzte. »Die weibliche Ausführung von Braku«, antwortete er. »Nur zehnmal so schlimm. Sie tötet aus reinem Spaß, weißt du? Selbst die Garde hat Angst vor ihr.

Der Stadthalter fragt sie um Erlaubnis, wenn er oder seine Leute hier in den Norden müssen. Und er bekommt sie nicht immer. Sie ist so etwas wie die unumschränkte Herrscherin über den Norden Schelfheims.«

»Aber sie ist ein Kind!« sagte Tally.

Karan schnaubte. »Dasselbe würde mancher auch von dir behaupten, wenn er dich sähe, Tally.«

»Tally?« Tally wandte vorwurfsvoll den Blick. »Du hast ihm verraten, wer ich bin?«

»Das war nicht nötig«, verteidigte sich Weller. »Er wußte es bereits. Beim Schlund, die halbe Stadt weiß, daß du auf dem Wege hierher bist.«

»Aber keiner weiß, daß du Karan gesucht hast«, sagte Karan. »Auch Angella nicht. Du bist in Sicherheit, solange du das Haus nicht verläßt. Aber Weller hat recht

- sie suchen dich. Dich und deinen Begleiter, den Waga.

Was suchst du hier?«

»Dich«, antwortete Tally. »Ich habe von dir gehört, Karan. Ein Mann namens Sagor nannte mir deinen Namen.«

»Du suchst Karan, du hast Karan gefunden«, dekla-mierte Karan. »Also sage, was du von ihm willst.«

Tally zögerte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, um nur hierher zu kommen, erschien es ihr beinahe zu einfach. »Ich... das heißt, wir«, begann sie,

»Hrhon und ich, brauchen deine Hilfe.«

»Wobei braucht ihr Karans Hilfe?« fragte Karan.

»Braucht ihr Waffen? Rauschgift? Gedungene Mörder oder falsche Papiere? Sprich ruhig. Wenn der Preis stimmt, dann gibt es nichts, was Karan nicht besorgen kann.«

»Ich brauche nichts von alledem«, sagte Tally zögernd.

Nervös blickte sie erst Weller, dann Karan an, stand schließlich auf und trat ans Fenster. Aber sie blickte nicht in den Schlund hinab, sondern in den Himmel, der sich wie eine gigantische blaue Kuppel darüber spannte.

Trotzdem glaubte sie die Nähe des riesigen Abgrundes zu spüren. Ganz leicht wurde ihr schwindelig.

»Ich habe lange nach einem Mann wie dir gesucht, Karan«, begann sie vorsichtig. Sie war nervös. Sie wußte, wie wichtig die nächsten Worte waren. Aber sie hatte niemals gelernt, mit Worten umzugehen.

Mit einem Ruck drehte sie sich herum, ohne auf den stechenden Schmerz in ihrer Schulter zu achten, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das glatte Glas des Fensters. »Wir brauchen einen Führer, Karan«, sagte sie. »Einen Mann, der Hrhon und mich dort hinunter bringt. Man sagte mir, du wärest der einzige, der das kann.«

Wellers Unterkiefer klappte herunter, aber Karans Gesicht blieb ausdruckslos. Nicht einmal in seinen Augen war so etwas wie Überraschung zu erkennen. Er mußte wohl geahnt haben, warum Tally wirklich hier war.

»Nein«, sagte er ruhig.

Tally seufzte. Sie hatte geahnt, daß die Schwierigkeiten jetzt erst wirklich begannen. »Du hast es schon einmal getan«, sagte sie.

»Karan ist nicht der einzige.«

»Aber du bist der einzige, der zurückgekommen ist«, beharrte Tally.

»Und wenn? Es bleibt bei Karans nein.«

»Du weißt ja noch gar nicht, was ich dir biete, Karan«, sagte Tally. »Und warum ich es will.«

»Warum du es willst, ist deine Sache«, sagte Karan.

»Und was kannst du Karan bieten, was er nicht hätte? Er hat ein Haus, er hat Geld und er hat einen Sohn. Und er lebt. Wenn er mit dir dort hinunterginge, würde er sterben.«

»Du hast es schon einmal überlebt.«

»Karan hatte Glück«, sagte Karan ruhig. »Und etwas von ihm ist gestorben, dort unten. Auch von dir würde etwas sterben, gingen wir dorthin. Willst du das?«

»Ich - «

»Du«, unterbrach sie Karan, »bist nicht die erste, die mit dieser Bitte zu Karan kommt. Viele haben ihn gebeten, viele haben ihm Geld geboten, sehr sehr viel Geld, und manche haben ihn bedroht. Keinen hat er hinunter-geführt. Er kann dir den Weg beschreiben, aber das kostet Geld.«