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»Aber wo... wo ist es hin?« murmelte sie. »Ich meine, wenn... wenn du die Wahrheit sagst, wohin ist all dieses Wasser verschwunden? Es kann doch nicht ausgetrocknet sein!«

»Das weiß niemand«, antwortete Karan. »Manche sagen, es ist einfach verschwunden, so wie ein See austrocknet, in einem heißen Jahr. Andere behaupten, die Menschen hätten die Götter gefrevelt, und sie hätten ihnen zur Strafe das Wasser genommen. Wieder andere sagen, der Mensch hätte nach den Sternen gegriffen und ihre Macht entfesselt, so lange, bis er ihr selbst nicht mehr Herr geworden wäre. Wer will sagen, was nun stimmt? Karan kann es nicht.« Er lachte leise. »Manche behaupten gar, es wäre noch da, nur tief unter dem Boden des einstigen Meeres, gefangen in gewaltigen Höhlen, die aufbrachen, als der Mensch nach verbote-nem Wissen griff.«

»Und was ist wirklich dort unten?« fragte Tally leise.

»Die Hölle«, antwortete Karan. »Oder das Paradies.«

Tally sah ihn fragend an.

»Es gibt sie noch, diese Welt, von der Karan gesprochen hat«, fuhr Karan fort. »Eine Welt voller Leben.

Siehst du das Grün?«

Tally nickte.

»Es ist Leben«, sagte Karan. »Ein Leben, wie du es dir nicht einmal vorzustellen vermagst. Aber es ist gefährlich. Es ist böse, und es tötet dich, noch ehe du es bemerkst. Es gibt Wälder dort unten, größer als unsere Welt, und so dicht, daß das Licht der Sonne nicht den Boden erreicht.«

»Dann warst du wirklich dort«, murmelte Tally.

Karan lächelte. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er, beinahe sanft. »Karan war dort, aber er hat geschworen, es nie wieder zu tun. Für nichts auf der Welt.«

»War es so schlimm?« fragte Tally.

»So schön«, erwiderte Karan ernst. »Es ist das Paradies, Tally. Aber Karan kann nicht darin leben, so wenig wie du oder irgendein anderer. Und es ist die Hölle, wenn du es siehst, und niemals erreichen kannst.«

»Lebst du deshalb hier?« fragte Tally. Karan nickte.

»Dann beneide ich dich nicht um dein Leben«, fuhr Tally fort. »Es muß... schrecklich sein.«

»Manchmal«, gestand Karan. »Und doch kann Karan nirgendwo anders leben als hier. Irgendwann, wenn seine Zeit gekommen ist, wird er sein Ende hier finden.«

Tally wollte antworten, aber irgend etwas hielt sie zurück. Sie hatte zu viel erfahren in den letzten Minuten, zu viel, was sie noch gar nicht begriff, um mit Karan reden zu können. Ihr schwindelte, aber es war jetzt nicht mehr allein die ungeheuerliche Höhe, die sie schwindeln ließ. Sie hatte in wenigen Minuten mehr über die Geschichte dieser Welt erfahren als in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens zuvor.

»Wie... wie tief ist es?« fragte sie - nicht aus wirkli-gern Interesse, sondern nur, um überhaupt irgend etwas zu sagen, das entsetzliche Schweigen des Abgrundes zu brechen.

»Unendlich tief«, erwiderte Karan. »Viele haben versucht, die Klippe hinabzusteigen. Es gibt Wege nach unten. Aber alle führen ins Nichts. Manche sind zurückgekehrt, nach einer Woche in der Wand, aber die meisten nicht. Sie sind tot.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Tally. »Wer sagt dir, daß sie nicht unten angekommen sind?« Sie sprach schnell, und eine Spur zu laut. Ihre Worte waren im Tonfall der Verteidigung vorgebracht, die sie auch waren.

»Wo ist der Unterschied?« fragte Karan sanft. »Der Schlund tötet dich. Du steigst zehn Tage in die Tiefe und kommst an eine Stelle, an der es nicht weiter geht, aber du kannst nicht mehr zurück, weil deine Kräfte nicht reichen. Oder du stürzt ab, wenn der Fels bricht. Oder du erreichst den Boden, und der Schlund tötet dich erst dort.« Er machte eine vage Handbewegung. »Und jetzt sag Karan, was du dort unten suchst, wenn nicht den Tod.«

»Aber du bist zurückgekommen!« begehrte Tally auf.

»Du kennst den Weg! Du kannst ihn mir zeigen!«

Karan schwieg.

Und auch Tally sagte nichts mehr, sondern warf nur einen letzten, sehr langen Blick auf die blauweiße Unendlichkeit unter dem Fenster und ging mit hängenden Schultern zurück zu ihrem Zimmer, um ihre wenigen Habseligkeiten zu holen. Der dumpfe Schmerz erst halb begriffener Enttäuschung wühlte in ihr.

Aber sie erreichte ihr Zimmer nicht. Auf halber Strecke hörte sie ein sonderbares, halb wimmerndes, halb seufzendes Geräusch, blieb alarmiert stehen und blickte sich um.

Im ersten Moment fiel ihr nichts Außergewöhnliches auf, aber dann hörte sie den seufzenden Laut erneut, und als sie in die Richtung blickte, aus der er kam, sah sie, daß ein Teil der vermeintlich massiven Wand zur Rechten in Wahrheit von einem Vorhang gebildet wurde, straff gespannt und von der Farbe der Felsen, so daß er bei flüchtigem Hinsehen nicht auffiel.

Neugierig - aber auch ein bißchen beunruhigt - trat sie hinzu, streckte behutsam die Hand aus und schlug den Stoff beiseite. Dahinter kam ein kaum einen Meter im Quadrat messender, halbhoher Verschlag zum Vorschein.

Was Tally sah, erschreckte sie zutiefst.

Im ersten Moment glaubte sie, es wäre ein Mensch, aber das konnte nicht stimmen - seine Proportionen waren falsch, und er war zu klein für den gewaltigen, aufgedunsenen Schädel. Die Haut der Kreatur war grau, ein sehr helles, unangenehmes Grau, wie Leichenhaut, und die Glieder geradezu absurd dünn. Das Wesen war nackt, und Karan oder Jan hatten es mit dünnen ledernen Riemen so festgebunden, daß es sich kaum zu rühren vermochte. Sein Kopf ruhte in einem regelrechten Netz von dünnen Bändern, und seine Arme waren so gebunden, daß es sie bewegen, sein Gesicht aber nicht damit erreichen konnte.

Tally unterdrückte den Ekel, den der Anblick in ihr wachrief, sah hastig den Gang hinab und schlug den Vorhang vollends beiseite, als sie erkannte, daß sie noch allein war.

Zögernd trat sie vollends in den Verschlag hinein und ließ sich vor der bedauernswerten Kreatur in die Hocke sinken, wobei sie allerdings sorgsam darauf achtete, nicht in die Reichweite der dürren Hände zu geraten.

Karan mochte seine Gründe haben, das Wesen so zu fesseln.

»Wer bist du?« fragte sie schaudernd.

Sie hatte selbst kaum damit gerechnet - aber sie bekam Antwort. Irgendwo in der teigigen Masse, die das Gesicht des Wesens darstellte, öffnete sich ein Paar erstaunlich großer, klarer Augen. Der dünne Mund verzog sich zu einem Idiotenlächeln.

»Beit«, sagte der Krüppel. Seine Stimme war überraschend klar.

»Beit?« wiederholte Tally. »Ist das dein Name?«

Das Ding antwortete nicht. Seine Augen schlossen sich wieder.

»Was tust du hier, Beit?« fragte Tally. »Hält Karan dich gefangen? Warum?«

Keine Antwort. Tally seufzte, steckte die Hand aus, wie um den Krüppel zu berühren, tat es aber dann doch nicht, weil ihre der Gedanke, diese grauweiße Leichenhaut unter den Fingern zu spüren, beinahe körperliche Übelkeit bereitete. »Warum antwortest du nicht?« fragte sie. »Ich bin nicht dein Feind.«