»Das ist etwas anderes«, widersprach Tally. »Er... er ist ein Mensch. Oder war es wenigstens einmal, ehe ihr... das da aus ihm gemacht habt!«
»Das ist er nicht«, widersprach Jan, nun schon etwas heftiger. »Glaube mir, der Unterschied zwischen ihm und einem Hornkopf ist nicht so groß, wie du denkst. Sie sind große, dumme Tiere, die zum Kämpfen und Arbeiten geschaffen worden sind, und er ist nichts anderes.
Sein Aussehen erschreckt dich vielleicht, aber es täuscht.
Er atmet, und er ißt, aber das ist auch alles, was an ihm lebt. Er denkt nicht. Er erinnert sich, das ist alles.«
Tally antwortete nicht mehr, sondern drehte sich nach einem letzten, von Entsetzen erfüllten Blick herum und lief davon, so schnell sie konnte.
Eine Stunde nach ihrem Gespräch mit Jan rief sie Karan zum Essen. Tally zögerte zuerst, überhaupt auf die Einladung zu reagieren; aber sie sah sehr schnell ein, daß es niemandem etwas brachte, wenn sie sich wie ein störrisches Kind benahm und schmollend in ihrem Zimmer blieb; ihr selbst am allerwenigsten. Außerdem hatte sie schlicht und einfach Hunger. So stand sie nach einer Weile auf und ging hinab ins Kaminzimmer, wo Karan und sein Sohn bereits auf sie warteten.
Weller fehlte, und als Tally sich setzte, fiel ihr auch auf, daß nur drei Gedecke aufgetragen waren. Auf ihre ent-sprechende Frage hin erklärte Karan einsilbig, daß er sich verabschiedet habe, um zu seinem Versteck in der Klippe zurückzukehren. Tally kam diese Antwort ein wenig sonderbar vor, nach allem, und auch Jan sah einen Moment auf, als wolle er etwas ganz anderes sagen, beließ es dann aber bei einem wortlosen Achselzucken und konzentrierte sich wieder ganz auf sein Essen.
Der Himmel über dem Schlund begann sich dunkel zu färben, während sie aßen, und nach einer Weile begann es tief unter ihnen zu wetterleuchten; Tally glaubte ein sehr weit entferntes, aber auch sehr machtvolles Grollen zu hören. Wenn Karan die Wahrheit gesagt hatte, dachte sie schaudernd, dann mußten die weißen Flecken dort unten, die sich jetzt grau gefärbt hatten, Wolken sein.
Die Vorstellung, sich eine oder auch mehrere Meilen über einem Gewitter zu befinden wie ein bizarrer Gott auf einem noch bizarreren Thron, ließ sie schaudern.
»Du hast nachgedacht über das, was dir Karan gesagt hat«, sagte Karan plötzlich.
Tally fuhr erschrocken zusammen und begriff, daß sie in die Leere hinausgestarrt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Sehr lange. Sie nickte.
»Aber du willst noch immer gehen«, fuhr Karan fort.
Tally nickte abermals, schwieg aber weiter.
»Auch Karan hat nachgedacht«, sagte Karan plötzlich.
»Über das, was du ihm gesagt hast. Und über das, was ihm sein Sohn berichtete.«
Tally sah mit einer Mischung aus Schrecken und Zorn zu Jan hinüber. Sie hatte keinen Grund - schließlich war es nur natürlich, daß Jan seinem Vater von dem Zwischenfall vor Beits Quartier erzählt hatte - aber sie nahm es ihm übel wie eine persönliche Beleidigung. Es war ihr peinlich, ohne daß sie selbst sagen konnte, warum.
»Du bist fremd in dieser Welt«, fuhr Karan fort, als sie keinerlei Anstalten machte, das Gespräch von sich aus fortzusetzen. »Du kommst aus dem Süden, aus den Ländern jenseits der großen Wüste. Der Schelf ist eine fremde Welt für dich. Du verstehst nichts. Du begreifst nichts. Alles erschreckt dich. Dabei ist er ein Stück deiner Welt. Wenn du nicht einmal hier leben kannst, wie kannst du es dann im Schlund?«
Tally sah ihn scharf an, schwieg aber weiter.
»Aus diesem Grund«, sagte Karan, »hat Karan beschlossen, dir nicht zu helfen. Er wird dir den Weg nicht zeigen. Es wäre dein Tod.«
»Und wenn ich dich zwinge?« fragte Tally ruhig.
Jan spannte sich, aber sein Vater brachte ihn mit einer raschen, fast nicht wahrnehmbaren Bewegung zur Ruhe.
»Wie?« fragte er.
»Ich könnte dich töten, wenn du es nicht tust«, sagte Tally.
Karan lächelte. »Nein«, sagte er. »Das würdest du nicht tun.«
»Bist du sicher?«
»Karan ist sicher«, antwortete Karan. »So sicher, daß er dich bittet, noch einige Tage hier bei ihm zu bleiben.«
»Warum sollte ich das tun?« fragte Tally zornig. »Ich habe genug Zeit verloren.«
»Um dich zu erholen«, antwortete Karan. »Dein Körper braucht Ruhe. Und du weißt viele Dinge, die Karan interessieren. Du könntest mit ihm reden. Er lebt von Informationen.«
Tally dachte an das leichenhäutige, sabbernde Ding draußen in seinem Verschlag. Ganz leicht wurde ihr übel. Oh ja, sie konnte sich vorstellen, daß Karan von Informationen lebte. Jetzt, wo sie wußte, wo er sie unter-brachte.
»Er bezahlt gut«, fuhr Karan fort. »Wissen gegen Wissen.«
»Wissen gegen Wissen?« Tally schnaubte. »Was könntest du mir bieten, alter Mann? Das, was ich von dir will
-«
»Kein Wissen über den Schlund«, unterbrach sie Karan. »Doch sonst alles. Viel, was wertvoll für dich sein kann. Bedenke, wie Jan dich fand. Fast wärest du gestorben, aus reiner Unwissenheit. Vielleicht ist Karans Sohn das nächste Mal nicht da, um dir beizustehen. Der Weg zurück in deine Heimat ist weit und voller Gefahren.
Karan kennt andere Wege.«
Tally überlegte einen Moment. Ganz impulsiv hatte sie eher Lust, Karan den Rest ihrer Mahlzeit ins Gesicht zu schütten, als ein Geschäft mit ihm einzugehen. Aber sie brauchte ihn, ihn und sein Wissen. Und er hatte recht.
Ohne Jan wäre sie vielleicht so lange ziellos durch die Stadt geirrt, bis Angellas Männer sie geschnappt und getötet hätten. Im Grunde, dachte sie niedergeschlagen, war ihre Reise nach Schelfheim zu einem Fiasko geworden, einer Flucht, die in der ersten Minute begonnen und bis jetzt nicht wirklich aufgehört hatte, und...
... und plötzlich wußte sie, was sie tun mußte.
Der Gedanke überfiel sie mit solcher Wucht, daß sie an sich halten mußte, ihn nicht vor lauter Verblüffung gleich auf der Stelle laut auszusprechen. Oder zu hastig in die Tat umzusetzen. Und er war so einleuchtend, daß sie sich fragte, warum beim Schlund sie zwei volle Tage gebraucht hatte, darauf zu kommen.
Gezwungen ruhig wandte sie sich an Jan. »Dieses Mädchen«, begann sie. »Angella...«
Jan sah auf. »Mädchen?« fragte er mit gerunzelter Stirn. »Ich wüßte eine Menge Bezeichnungen, die besser auf sie passen.«
Tally schnitt ihm das Wort mit einer ungeduldigen Geste der Hand ab. »Sie lebt«, sagte sie. »Stimmt das?«
Jan nickte. Er wirkte betrübt. »Ich fürchte, ja«, antwortete er. »Du hättest gründlicher zustoßen sollen; am besten ein dutzendmal. Mein Vater hat vollkommen recht - du bist tot, wenn du dieses Haus verläßt. Angellas Männer durchsuchen die ganze Stadt. Und wenn sie dich finden, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein.«
»Ich kann nicht hierbleiben, bis sie an Altersschwäche stirbt«, sagte Tally.