Es waren sehr viele, und als sie näher kamen, erkannte Talianna, daß nicht alle von ihnen menschliche Wesen waren, und längst nicht alle auf Pferden ritten. Und auch ihre Art, sich der Stadt zu nähern - auf breiter Front und langsamer, als es beim Anblick einer zerstörten Stadt und einer Handvoll Überlebender zu erwarten wäre - erinnerte Talianna auf bedrückende Weise viel eher an den Anblick einer heranrückenden Armee als eines Hilfs-trupps.
Keiner von ihnen rührte sich, während die Reiter näherkamen. Etwa ein Dutzend von ihnen näherte sich der kleinen Gruppe verängstigter Menschen bis auf wenige Schritte und hielt an, während die übrigen in einer weit ausholenden Zangenbewegung die Stadt einzuschließen begannen. Die Pferde bewegten sich unruhig auf dem heißen Boden. Ihre Reiter hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Es roch ganz leicht nach heiß gewordenem Horn.
Talianna blickte mit klopfendem Herzen zu den Reitern empor. Die Männer waren ausnahmslos groß und von kräftiger Statur, und sie zweifelte nun nicht mehr daran, daß es eine Armee war, der sie gegenüberstanden; denn Kleidung und Waffen der Reiter waren nicht die einfacher Reisender, sondern die von Kriegern.
Die meisten trugen lange Schwerter aus Bronze oder messerscharf geschnittenem Obsidian im Gürtel, andere Äxte oder Keulen und so mancher eine Waffe, die sie nie zuvor gesehen hatte. Obwohl sie keine Uniformen trugen und ihre Kleider ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Fellen und Leder und Stoff darstellte, ähnelten sie sich auf schwer in Worte zu fassende Weise.
Irgend etwas war in ihren Gesichtern - selbst in denen der drei nicht-Menschen, die bei dem Dutzend Reiter war
- das sie verband.
Talianna fröstelte. Die Männer machten ihr Angst.
Und sie war nicht allein mit diesem Gefühl, denn die acht Erwachsenen, die mit ihr hergekommen waren, um die Reiter zu begrüßen, schwiegen so verbissen wie sie.
Niemand sprach ein Wort der Erleichterung, niemand begann zu weinen oder eilte den Männern entgegen, um sie zu umarmen - nichts von dem, was Talianna erwartet hatte, geschah. Der Anblick des Dutzends waffenstar-render Reiter allein reichte aus, ihnen allen zu sagen, daß sie Feinden gegenüberstanden.
Schließlich war es einer der Fremden, der das Schweigen brach. »Was ist hier geschehen?« fragte er, mit einer Stimme, die in krassem Widerspruch zu seinem vernarbten Gesicht und seinen schwieligen Fäusten stand. Sie klang sehr sanft, trotz des fordernden Tones, den er in seine Worte gelegt hatte.
Niemand antwortete. Der Reiter runzelte die Stirn, schwang sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung vom Rücken seines Pferdes und maß das kümmerliche Häufchen angstzitternder Überlebender mit einem langen Blick.
Talianna sah jetzt, daß er nicht so groß war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte; was ihn so massig erscheinen ließ, war wohl eher der fellbesetzte Lederpanzer und der wuchtige Helm, den er trug. Aber er war sehr kräftig, und seine Bewegungen waren eindeutig die eines Mannes, der es gewohnt war, zu befehlen.
»Was hier geschehen ist, habe ich gefragt!« wiederholte er streng.
»Wir... sind überfallen worden«, antwortete einer der Männer. »Sie haben die Stadt niedergebrannt und alle getötet.«
»Sie?« Eine schmale Falte kroch unter dem Rand des Helmes hervor und grub sich zwischen die Augen des Kriegers. »Wer? Wie ist dein Name, Bursche, und wo sind die anderen?«
»Mein... mein Name ist Joffrey, Herr«, stammelte der Mann. Er war blaß vor Furcht.
Der Krieger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spar dir den Herren«, sagte er grob. »Mein Name ist Hraban. Meine Männer und ich - « Er machte eine Bewegung zu seinen Begleitern. » - sind Söldner, auf dem Weg nach Osten. Wir haben gehört, daß es dort Arbeit für uns gibt. Aber dieser Teil des Landes liegt mit niemandem im Krieg. Ich muß das wissen, oder?« Er schürzte die Lippen, als warte er auf eine Bestätigung, aber Joffrey schwieg weiter. »Wer also hat euch überfallen, und wo sind die anderen?«
»Wir wissen es nicht, He... Hraban«, antwortete Joffrey stockend. »Sie kamen in der Nacht, und es... es ging alles so schnell. Wir hatten uns verborgen.« Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung.
Hraban starrte ihn an. »Was ist mit dir los, Kerl?«
fragte er scharf. »Wir haben das Feuer gesehen und sind geritten wie die Teufel, um euch zu helfen, und ihr belügt uns?« Seine Hand klatschte auf den Gürtel herab.
Er war der einzige unter den Männern, der keine Waffe trug, aber die Geste allein war eindeutig genug. Und zumindest in Taliannas Augen war es gerade seine Waf-fenlosigkeit, die ihn viel bedrohlicher erscheinen ließ als die anderen.
»Ich lüge nicht, Herr!« sagte Joffrey hastig, aber Hraban schnitt ihm mit einer zornigen Handbewegung das Wort ab.
»Du willst mir erzählen, irgend jemand hätte das hier angerichtet, ohne daß ihr gesehen hättet, wer?« meinte er mit einer Geste auf die zerstörte Stadt. Joffrey senkte angstvoll den Blick, und Hraban fuhr mit einem zornigen Laut herum und wandte sich an die Frau rechts neben Talianna.
»Und du?« schnappte er. »Hast du auch dein Gedächtnis verloren?«
»Nein, Herr«, antwortete die Frau flüsternd. »Es ist nur, daß...«
»Es waren die Drachen«, sagte Talianna ruhig.
Hraban blinzelte, legte den Kopf auf die Seite, lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Wie hast du gesagt, Kind?«
Eine Hand legte sich auf Taliannas Schulter, und eine Stimme sagte: »Hört nicht auf sie, Hraban. Sie ist ein dummes Kind. Der Schrecken hat ihr den Verstand verwirrt.«
»Mir scheint eher, sie ist die einzige von euch, die bei klarem Verstand geblieben ist«, grollte Hraban. »Laßt sie reden.«
Er trat auf Talianna zu, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und legte die Hand auf ihre Schulter, eine Berührung, die an die Gedelfis vom vergangenen Abend erinnerte. Obgleich Hrabans Finger nur ganz leicht auf ihr ruhten, spürte sie die gewaltige Kraft, die darin schlummerte. Sie suchte vergeblich in ihrem Inneren nach einem Anzeichen von Angst.
»Es waren die Drachen, Herr«, sagte sie noch einmal.
»Ich... ich habe sie gesehen, ganz deutlich. Sie kamen von Norden und... und sie haben Feuer gespuckt und alles zerstört.«
»Nun, alles nicht«, sagte Hraban lächelnd. »Immerhin lebt ihr ja noch, und sicher auch noch andere.« Er lächelte abermals, verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und richtete sich schließlich wieder auf. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich um und deutete auf einen seiner Begleiter. »Denon! Gib diesem undankbaren Gesindel zu essen und zu trinken und laß den Wund-heiler kommen. Die Männer sollen ihr Lager am Fluß aufschlagen. Ein Stück stromaufwärts, verstehst du? Ich will nicht, daß die Tiere womöglich vergiftetes Wasser saufen.«
Der Angesprochene nickte, wendete sein Pferd und sprengte davon, während zwei, drei der anderen Krieger umständlich von ihren Tieren stiegen und ihre Wasserschläuche von den Sattelriemen lösten, Auch Talianna überwand den kleinen Rest von Angst, den sie noch vor diesen furchterregenden Gestalten verspürte, und griff gierig zu, als ihr ein Wasserschlauch hingehalten wurde.
Sie trank sehr viel, denn ihre Kehle war vom stundenlangen Weinen ausgedörrt, und kaum hatte sie den schlimmsten Durst gelöscht, da spürte sie, wie hungrig sie war. Aber sie wagte es nicht, nach Essen zu fragen, und schließlich hatte Hraban ja gesagt, daß Denon ihnen Nahrung bringen sollte.
»Komm her zu mir, Kind«, sagte Hraban, als sie ihren Durst gelöscht und den Wasserschlauch zurückgegeben hatte. Er lächelte bei diesen Worten, aber Talianna zögerte. Nervös blickte sie zu den anderen hinüber, die gleich ihr das Wasser angenommen hatten und gierig tranken. Aber die Nervosität - nein, verbesserte sie sich in Gedanken: die Angst - auf ihren Zügen war geblieben.