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»Das stimmt auch«, erwiderte Tally ungerührt. »Du hast mich niemals gefragt, ob ich noch eine zweite besitze, oder?«

Weller schluckte hörbar, starrte Tally finster an und atmete tief ein, beließ es aber dann bei einem resignie-renden Seufzen. »Hast du noch mehr solcher Überraschungen auf Lager?« fragte er.

Tally nickte. »Ja. Aber wenn ich sie dir verriete, wären es keine Überraschungen mehr, oder?« Sie lächelte kalt, drehte sich mit einem Ruck herum und sah zu Karan zurück, der nun ebenfalls nachkam; schnell, aber ohne zu rennen.

»Was hast du getan?« fragte sie.

»Nichts«, antwortete Karan. »Noch nichts. Aber sie werden Karans Haus nicht ungestraft angegriffen haben, das schwört er. Kommt mit. Karan braucht eure Hilfe.«

Sie gingen weiter. Der Gang führte für zehn, zwölf Schritte schräg nach oben und endete jäh vor einer nur drei Stufen zählenden Treppe, hinter der sich eine weitere, aus massivem Eisen errichtete Tür erhob. Karan löste einen kompliziert aussehenden Schlüssel vom Gürtel, sperrte das Schloß auf und winkte ihnen ungeduldig, nachzukommen.

Tally hatte mit einer Fortsetzung des Stollens gerechnet, vielleicht mit einem Kellerraum, einer Treppe

- aber die Tür führte ins Freie hinaus. Über ihren Köpfen und an beiden Seiten erhob sich der in der Nacht schwarze Fels der Klippe, aber vor ihnen, nur ein halbes Dutzend Schritte entfernt, war das Nichts. Sie standen in einer nach Norden offenen Höhle.

Tally schauderte. Was hatte Karan vor?

Aber der Alte gab ihr keine Gelegenheit, ihre Sorge in irgendeine Frage zu kleiden. Hastig schlurfte er zum Rand der Felsplatte, ließ sich auf ein Knie herabsinken und winkte Tally befehlend, ihm zu folgen. Mit klopfendem Herzen gehorchte sie.

Der Anblick war so, wie sie erwartet hatte - nur hundertfach schlimmer. Sie kniete über dem Nichts, aber anders als auf Karans Balkon gab es hier kein schützendes Geländer. Direkt unter ihr gähnte der Schlund. Zum allerersten Male in ihrem Leben begriff sie die wahre Bedeutung dieses Namens.

»Sieh!« Karans Hand wies schräg nach unten. Mit wild hämmerndem Herzen beugte sich Tally weiter vor und erkannte, daß sie sich nur wenige Meter oberhalb seines Hauses befanden. In der Schwärze der Nacht wirkte es mehr denn je wie ein Schwalbennest, das direkt an den Felsen geklebt worden war.

»Sie haben es gewagt«, sagte Karan. Seine Stimme bebte. »Sie haben das heilige Gesetz der Gastfreundschaft gebrochen, das in Karans Haus gilt. Sie werden dafür bezahlen.«

Tally sah den Alten verwirrt an. Was sie in Karans Stimme gehört hatte, war eindeutig Haß - ein Gefühl, das sie ihm bis zu diesem Augenblick nicht einmal zugetraut hatte. Und doch konnte sie ihn verstehen, als sie abermals zum Haus hinabsah. Durch die Fenster lohte roter Flammenschein, und davor bewegten sich Schatten. Sehr viele, sehr schwarze Schatten. Das Klicken und Rascheln horngepanzerter Glieder war selbst hier oben deutlich zu vernehmen.

Karan stand auf und ging mit zwei schnellen Schritten zur rechten Wand der Höhle. Tally sah erst jetzt, daß dort ein gewaltiger, eiserner Hebel aus dem Fels ragte.

»Waga!« befahl Karan scharf. »Hilf mir!«

Hrhon sah sie fragend an. Tally nickte. Schwerfällig ging Hrhon auf Karan zu, drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück und legte seine mächtigen Pranken auf den Hebel, bewegte ihn aber noch nicht.

»Was tust du, Karan?« fragte Tally.

»Karan tut, was Karan tun muß«, antwortete der Alte entschlossen. »Sie brechen die uralten Gesetze. Sie wollen Krieg. Sie werden ihn bekommen. Zieh den Hebel, Waga!«

Hrhon gehorchte. Seine gewaltigen Muskeln spannten sich. Der Hebel ächzte hörbar, verbog sich knirschend

- und senkte sich mit einem Ruck nach unten.

Im ersten Moment geschah nichts. Dann glaubte Tally, irgendwo tief unter ihren Füßen ein mächtiges Knirschen und Rumoren zu hören, und plötzlich begann der buckelige Umriß des Hauses vor ihren Augen zu verschwimmen. Holz splitterte. Irgendwo zerbrach etwas, und die Nacht sog die Trümmer des schmalen Stegs auf, der zu Karans Haus führte.

Dann stürzte das gesamte Gebäude ab.

Es ging sehr schnell, und beinahe lautlos, aber Tally sah alles mit phantastischer Klarheit. Karans Haus zerbrach wie ein Ei, das von einem Faustschlag getroffen wird. Gewaltige Stücke lösten sich aus seinen Wänden, dann beugte sich seine gesamte westliche Hälfte grotesk langsam zur Seite, kippte in den Schlund und zerbrach in Tausende einzelner Trümmerstücke, ehe es vollends in der Nacht verschwand.

Irgendwo zwischen den Trümmern des verbliebenen Restes blitzte es auf. Ein kurzer, sonderbar trockener Knall wehte zu Tally empor, und plötzlich quoll eine Wolke aus Feuer und Rauch und zerfetzten Chitinleibern und Trümmern aus der Klippe. Ein ungeheuerliches Donnern erscholl, das noch am anderen Ende Schelfheims zu hören sein mußte.

Als es verklang, war von Karans schwebendem Haus keine Spur mehr geblieben. Wo es gewesen war, gähnte ein gewaltiges, schwarzverkohltes Loch in der Felswand.

Tally stand langsam auf und drehte sich herum. Es war zu dunkel, als daß sie die anderen deutlicher denn als schwarze Schatten erkennen konnte, aber sie spürte den Schrecken, den Weller empfand, und die Betroffenheit, die von Jan Besitz ergriffen hatte. Unter ihnen war mehr zerstört worden als ein Haus. Viel mehr.

»Und nun?« fragte sie schließlich.

»Weiter«, antwortete Karan. »Dieser Ort ist nicht sicher. Sie werden nach euch und Karan suchen. Sie werden merken, daß ihr und er noch leben. Aber wir werden nicht mehr da sein. Karan bringt euch an einen Ort, an dem ihr sicher seid.«

Tally seufzte. »Ich weiß nicht, ob es mich freut, recht behalten zu haben, Karan«, sagte sie, leise und mit ehrlichem Bedauern. »Aber jetzt wirst du uns helfen müssen. Von Moment an jagen sie nicht nur mich, sondern uns alle.«

Karan schwieg.

~ 7 ~

Wie Karan versprochen hatte, führte er sie auf verborgenen Wegen tiefer in die Stadt hinein. Als sie eine oder auch zwei Stunden später, das wußte Tally nicht zu sagen, wieder ans Tages- bzw. Mondlicht heraustraten, da war nicht nur Tally zum Umfallen erschöpft. Auch die anderen wankten, und selbst Hrhon bewegte sich schleppender als gewohnt. Ihn, der die Geschicklichkeit nicht unbedingt gepachtet hatte, mußte das Gehen in den meistens nur halbhohen Gängen und Stollen besonders viel Kraft gekostet haben. Und Tally wußte nicht, was er in den Tagen zuvor durchgemacht hatte. Plötzlich spürte sie, wie sehr ihr der Waga gefehlt hatte.

Sie kamen am nördlichen Ende eines großen, halbrunden Platzes heraus. Die Nacht war still, und selbst das Donnern des Wasserfalles war nicht mehr zu hören. Sie mußten sich ein gehöriges Stück vom Schlund entfernt haben. Es war sehr kalt. Das Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe, und in der Luft lag noch der Geruch von Regen.

»Scheint alles ruhig zu sein«, murmelte Weller. Er war der erste, der das nur von heftigen Atemzügen untermalte Schweigen brach, und seine Stimme klang matt und erschöpft. »Wo sind wir?«

»Nicht weit vom Hafen entfernt«, antwortete Jan. »Der Wind steht gegen uns«, fügte er hinzu, als er Wellers fragenden Blick bemerkte. »Deshalb hört man nichts. Wir haben Freunde hier in der Gegend.« Er sah seinen Vater erlaubnisheischend an, und Tally bemerkte, daß Karan fast unmerklich nickte, ehe Jan fortfuhr: »Wir werden bei ihnen Unterschlupf suchen, wenigstens für den Rest der Nacht. Der Weg aus der Stadt heraus ist zu weit. Wir müssen im Vollbesitz unserer Kräfte sein.«