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Tally wollte eine Frage stellen, aber Karan drehte sich rasch um und begann den Platz zu überqueren, so daß sie ihm folgen mußten, ob sie wollten oder nicht. Mit Ausnahme Karans hatten sie alle ihre Waffen gezogen.

Es war sehr still, aber Tally hatte ja am eigenen Leibe erfahren, wie täuschend gerade diese Art der Stille sein konnte.

Nach einer Weile fiel ihr auf, wie sonderbar die Schatten der Häuser aussahen, zwischen denen sie sich bewegten - manche von ihnen waren absurd niedrig, so daß die untere Fensterreihe fast den Boden berührte, einige schienen gar schräg zu stehen. Sie fragte Weller danach.

»Das hier ist die Altstadt Schelfheims«, erklärte Weller.

»Die wirkliche Altstadt. Die Leute, die damals hierher kamen, wußten nichts von dem Grund, auf den sie bauten.«

Tally sah ihn fragend an.

»Die Häuser waren zu schwer«, fügte Weller lächelnd hinzu. »Sie versanken im Boden. Ganz langsam. Manche stürzten ein, aber die meisten sackten einfach in die Tiefe.« Er machte eine rasche Handbewegung nach unten. »Es gibt Häuser hier, die fünf Stockwerke weit in den Boden hinabreichen. Manchmal bauen sie einfach eine Etage obendrauf, bevor sie die unterste aufgeben.

Verrückt, nicht?«

Tally fand die Vorstellung eher erschreckend, aber Karan hinderte sie daran, ihre Gefühle in Worte zu kleiden, indem er Weller und sie anherrschte, gefälligst ruhig zu sein. Schuldbewußt verstummten sie.

Nach einer Weile blieben sie stehen. Karan sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, ehe er an eines der dunkel daliegenden Häuser trat und gegen die Tür klopfte. Er mußte sehr lange klopfen und immer lauter, ehe irgendeine Reaktion erfolgte - zum Schluß hämmerte er mit der Faust gegen die Tür, daß Tally fast glaubte, er wolle sie einschlagen. Aber endlich glomm in dem schmalen Sehschlitz im Holz ein trübgelbes Licht auf, und Augenblicke später lugte ein bärtiges Gesicht von schwer zu schätzendem Alter zu ihnen heraus.

»Karan!« Der Schrecken, der in diesem einen Wort lag, war nicht zu überhören. Trotzdem polterte ein Riegel, und Sekunden später schwang die Tür auf. Karan trat ohne ein Wort an dem Mann vorbei, winkte ihnen, ihm zu folgen, und legte eigenhändig den Riegel wieder vor, nachdem der letzte das Haus betreten hatte.

Tally sah sich rasch um. Der schmale Korridor, in dem sie standen, bot nicht viel Interessantes - eine Tür an seinem Ende, eine Treppe nach oben, eine zweite, die in die Tiefe führte. Interessanter war schon der Mann, der ihnen aufgetan hatte: er war ein Riese, noch größer als Weller und von massigem Körperbau, der sich aber so krumm hielt, daß sich sein Gesicht fast auf gleicher Höhe mit dem Tallys befand. Seine Augen flackerten vor Angst.

»Was tust du hier, Karan?« stammelte er. »Und wer sind diese Leute?« Er deutete nervös auf Tally, Weller und Hrhon.

»Freunde von Karan«, antwortete Karan. »Sie und er brauchen deine Hilfe.«

»Das geht nicht.« Die Worte des Riesen kamen zu schnell, als daß er darüber nachgedacht haben konnte.

Tally begriff, daß ihn ihr Auftauchen nicht überraschte, sondern daß er es im Gegenteil befürchtet hatte. Als er begriff, was er selbst gesagt hatte, lächelte er verlegen.

»Sie suchen euch«, fügte er hinzu, in etwas leiserem Tonfall. »Überall. Sie waren auch schon hier. Und sie werden wiederkommen.« Er seufzte. »Aber gut, kommt erst einmal herein. Eine Mahlzeit und eine kurze Rast sind ja auch nicht schlecht, oder?«

Karan schwieg, und auch der Riese sprach nicht weiter, sondern drehte sich überhastet herum und schlurfte gebückt auf die nach unten führende Treppe zu.

»Wer ist das?« wandte sich Tally an Jan, während sie dem Riesen folgten.

»Ein Freund meines Vaters«, erwiderte Jan. Er wirkte erschreckt. »Ein sehr guter Freund. Karan hat ihm und seiner gesamten Familie einmal das Leben gerettet.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Es muß schlimmer sein, als ich bisher annahm.«

Ihr Führer wandte sich im Gehen um und sah schuldbewußt zu ihnen zurück; er hatte jedes Wort gehört. Und auch Karan sah seinen Sohn strafend an.

»Still«, sagte er. »Was Karan mit seinen Freunden zu regeln hat, das bereinigt er selbst.«

Sie erreichten das Ende der Treppe, traten jedoch nicht auf den sich anschließenden Korridor hinaus, sondern nahmen eine zweite, schließlich eine dritte, steil nach unten führende Treppe in Angriff. Tally schätzte, daß sie sich gute fünfzehn Meter unter dem Niveau Schelfheims befinden mußten, als die hölzernen Stufen endlich aufhörten. Vor ihnen lag ein sehr niedriger, von blakenden Fackeln erhellter Gang, von dem zahlreiche Türen ab-zweigten.

Ihr Führer zögerte wieder, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf eine der Türen, trat hindurch und steckte seine Fackel in einen eisernen Halter, der neben der Tür an der Wand angebracht war.

Tally sah sich neugierig um. Das Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet: ein Tisch und eine Anzahl niedriger hölzerner Hocker bildeten zusammen mit einer gewaltigen Truhe die gesamte Möblierung. An der west-lichen Seite gab es ein Fenster, aus dem vor hundert Jahren das Glas herausgefallen war. Dahinter lag der steinhart zusammengebackene, weiße Sand des Schelfs.

Der Raum war so niedrig wie der Gang draußen - sie verstand jetzt, warum der Riese sich so krumm hielt, denn die Decke war kaum hoch genug, daß sie selbst aufrecht stehen konnte. Ganz instinktiv fragte sie sich, was das für ein Leben sein mußte, wie ein Molch in einer Höhle hier unten zu vegetieren. Die Vorstellung ließ sie schaudern.

»Wartet hier«, sagte der Riese. »Ich hole Wein und Brot.«

Karan nickte, und ihr Führer entfernte sich so hastig, daß jedem klar sein mußte, wie froh er war, aus ihrer Nähe zu verschwinden.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jan, kaum daß die Tür hinter ihm zugefallen war. »Nors ist dein treuester Verbündeter. Er würde sein Leben opfern, um deines zu retten.«

Karan, dem die Worte galten, nickte. »Er hat Angst«, sagte er. »Karan liest große Furcht in seiner Seele.« Sein Blick suchte den Tallys. »Du hast mächtige Feinde, Tally.«

»Ich fürchte, nicht nur ich«, sagte Tally. »Oh verdammt, Karan, das wollte ich nicht. Hätte ich geahnt, daß ich euch alle mit ins Verderben reiße...«

»Dann wärst du trotzdem gekommen«, unterbrach sie Karan. »Du überschätzt dich. Es liegt nicht in deiner Macht, irgend etwas zu tun oder zu ändern, was das Schicksal anders entschieden hat. Alles kommt, wie es kommen muß. Wir sind nur Werkzeuge. Kann das Beil sich weigern, den Baum zu spalten?«

»Manchmal«, sagte Tally ernst, »fährt es in das Bein dessen, der es schwingt.«

»Nur wenn er ungeschickt ist.« Karan machte eine abschließende Geste. »Wir würden auch nicht hier bleiben, wenn Nors es uns anböte«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Eine Stunde Rast, vielleicht auch zwei, und ein wenig Nahrung, das ist alles, was Karan von ihm verlangt.« Er drehte sich herum, nahm auf einem der unbequemen Hocker Platz und sah demonstrativ zu Boden.