»Ich... weiß nicht«, sagte sie.
Für einen ganz kurzen Moment sah Hrabans Gesicht aus, als wolle er wütend lospoltern, aber dann seufzte er nur, schüttelte den Kopf und drehte sich mit einem knappen Winken um. »Komm mit«, sagte er.
Talianna gehorchte, wenn auch erst nach einem aber-maligen, sehr langen Zögern. Sie entfernten sich ein gutes Stück von den Reitern und den anderen, ehe Hraban stehenblieb und sich zu ihr umwandte. Wie zuvor ließ er sich in die Hocke gleiten, so daß ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ein Sonnenstrahl ließ etwas an seinem Hals aufblitzen, und als Talianna genauer hinsah, erkannte sie, daß es ein roter Stein war, geformt wie eine blutige Träne und von einem feinen Filigran aus Gold und Jade eingefaßt.
Hraban bemerkte ihren Blick. Mit spitzen Fingern hielt er den Stein hoch, soweit es das goldene Kettchen zuließ, an dem er befestigt war. »Gefällt er dir?« fragte er.
Talianna nickte. »Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, bekannte sie.
»Er ist sehr wertvoll«, sagte Hraban leise. Dann ließ er den Stein wieder sinken und sah sie mit plötzlichem Ernst an. »Aber jetzt erzähle. Und nur keine Angst
- wir sind nicht eure Feinde, sondern wollen euch helfen.« Er bemerkte den flehenden Blick, den Talianna zu den anderen zurückwarf, und runzelte die Stirn, jetzt doch sichtlich verärgert. »Glaube bloß nicht, daß ich euch nicht verstehe«, sagte er. »Deine Leute haben alles verloren und sind fast umgebracht worden. Es wäre ja unnormal, wenn sie keine Angst hätten, sich plötzlich einer Armee von Fremden gegenüber zu sehen. Aber ich muß wissen, was passiert ist. Wir sind nicht sehr viele, und die, die eure Stadt vernichtet haben, könnten zurückkommen. Das verstehst du doch, oder?«
Talianna nickte. »Es... es waren wirklich die Drachen«, sagte sie stockend. »Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr.«
»Drachen.« Hraban schwieg einen Moment. »Ich habe davon gehört. Aber... die meisten sagen, daß es sie gar nicht gibt. Ich bin viel herumgekommen in der Welt, aber ich habe niemals einen gesehen. Und auch keiner meiner Männer.«
»Aber es war so!« sagte Talianna ärgerlich. Sie fühlte sich angegriffen, weil Hraban ihr so ganz offensichtlich nicht glaubte. »Ich sage die Wahrheit.«
»Drachen...« murmelte Hraban noch einmal, diesmal aber mit gänzlich anderer Betonung. Der Blick seiner dunklen Augen glitt über die Ebene aus geschmolzenem Eisen und das, was von der Stadt übrig geblieben war.
Schließlich nickte er. »Es ist schwer zu glauben. Aber ich habe niemals eine Zerstörung wie diese hier gesehen.
Keine Waffe, die ich kenne, könnte so etwas tun.« Einen Moment lang blickte er zu Boden, dann sah er Talianna wieder in die Augen. »Wie habt ihr überlebt, wenn alles so schnell ging, wie dieser Joffrey sagt? Sind noch andere geflohen?«
»Niemand, Herr«, antwortete Talianna, die plötzlich wieder den Tränen nahe war. »Wir waren nicht hier, als es geschah, sondern oben im Wald.« Sie deutete auf die struppige Mauer aus schwarzen Tannen, eine halbe Meile über der Stadt. »Morgen... gestern war Mittsommerfest. Wir wollten Dämmerpilze sammeln, für das Essen, und der alte Gedelfi weiß die besten Stellen, um sie zu finden.«
»Und dann habt ihr euch im Wald versteckt?«
Talianna schüttelte heftig den Kopf. »Nicht im Wald.
Ein paar haben es versucht, aber die Drachen haben sie gefunden.« Erneut deutete sie auf die grüne Mauer über der Stadt. Auch der Wald hatte Wunden. Wenn die Sonne vollends aufgegangen war, würde man sie sehen.
»Es gibt einen alten Bergwerksschacht.«
»Und der hat euch geschützt?«
Talianna nickte.
»Dann gibt es doch sicher noch mehr von diesen Schächten.«
»Drüben, auf der anderen Seite des Flusses.« Talianna nickte. »Viele. Manche sind sehr tief.«
»Kannst du sie mir zeigen?« fragte Hraban, und fügte hinzu: »Später. Wenn du gegessen und dich ausgeruht hast.«
»Warum wollt ihr das alles wissen, Herr?« fragte Talianna.
Hraban lächelte. »Nun, wenn ihr überlebt habt, warum dann nicht auch andere? Wäre dir wohl bei dem Gedanken, daß sie jetzt vielleicht dort eingesperrt sind, möglicherweise so verschüttet, daß sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskämen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und seufzte. »Na, das wird sich alles ergeben«, fuhr er fort. »Keine Angst mehr, Kleine. Meine Männer und ich sind hier, und wir werden nach den Überlebenden suchen.« Er stand auf. »Aber jetzt sorgen wir erst einmal dafür, daß du etwas Warmes zu Essen bekommst. Und der Wundscher wird sich deine Hände ansehen. Komm jetzt.« Damit wandte er sich um und ging zu den anderen zurück, und nach einer Weile folgte ihm Talianna.
Etwas später brachte Hraban sie zu Gedelfi zurück, und ganz wie er versprochen hatte, brachten einige seiner Männer zu Essen: trockenes Fladenbrot und gedörrtes Fleisch, das so zäh war, daß man es nur schneiden und in kleinen Stückchen kauen und dann ganz herunterschluk-ken konnte. Trotzdem kam es Talianna vor wie das Köstlichste, was sie jemals gegessen hatte; denn ihre letzte Mahlzeit lag einen Tag und zwei Nächte zurück.
Auch die anderen machten sich gierig über die darge-botenen Lebensmittel her und tranken sogar von dem Wein, den ihnen Hrabans Männer reichten. Überhaupt legte sich das Mißtrauen Hrabans Leuten gegenüber merklich, vor allem, als die Söldner eine halbe Meile stromaufwärts ihr Lager aufzuschlagen begannen und kurz darauf ein kleiner, weißhaariger Mann zu ihnen kam, um nach ihren Wunden zu sehen und ihnen Medi-zin zu reichen. Mit Ausnahme Gedelfis war keiner unter ihnen, der nicht auf die eine oder andere Weise verletzt war, wenn auch nicht schwer. Aber auch ein abgebrochener Fingernagel konnte sich entzünden und zum Verlust der Hand oder gleich des daranhängenden Körpers führen, wenn er nicht behandelt wurde, wie der Wundscher lächelnd erklärte.
Während er und zwei schweigende Krieger aus Hrabans Begleitung sich um die Überlebenden kümmerten, waren die anderen nicht untätig. Talianna sah, wie sie in kleinen Gruppen ausschwärmten, um die Ruinen zu durchsuchen oder in den Wald eindrangen, den sie Hraban gezeigt hatte. Eine weitere, etwas größere Gruppe versuchte gar, über die Brücke zu gehen, gab das Vorhaben aber rasch auf, als die ausgeglühte Konstruktion schon unter dem Gewicht des ersten Mannes bedrohlich zu ächzen begann. Sie gingen zurück und verschwanden wieder in ihrem Lager, und kurze Zeit später hörte Talianna das dumpfe, regelmäßige Dröhnen von Hammerschlägen.
»Was ist das?« fragte Gedelfi. Er sah auf, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment. Seit Talianna zurückgekommen und ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte er kein Wort gesagt. Hätte er sich nicht ab und zu schweigend bewegt oder beim Essen geschmatzt, hätte sie glatt vergessen, daß es ihn überhaupt noch gab.
Talianna blickte konzentriert zum Lager der Söldner hinüber, preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und strengte die Augen an. Sie war sich nicht ganz sicher. »Sie bauen etwas«, murmelte sie. »Ein Floß
- glaube ich.«
»Ein Floß? Wozu?«
»Um über den Fluß zu kommen, alter Mann.«
Talianna fuhr erschrocken zusammen und herum, als sie Hrabans Stimme hörte. Der Krieger war so lautlos nähergekommen, daß sie ihn bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte. »Die Brücke ist zerstört. Siehst du das denn nicht?«
Gedelfi - der anders als Talianna nicht die geringste Spur von Schrecken oder auch nur Überraschung zeigte
- wandte betont langsam den Kopf und blickte zu Hraban hoch. Auf dem Gesicht des Söldners erschien ein betroffener Ausdruck, als er die matt gewordenen Augen Gedelfis sah.
»Du bist blind«, murmelte er. »Das wußte ich nicht. Ich habe meinen Leuten Befehl gegeben, über den Fluß zu setzen und drüben in den Wäldern nach Überlebenden zu suchen. Vielleicht gibt es Verletzte, unten in den Minen, von denen das Mädchen erzählte.« Er setzte sich zu ihnen, beugte sich vor und schnitt einen schmalen Streifen Dörrfleisch ab, um darauf herumzukauen, aber sicher nicht aus Hunger.