»Wie geht es dir, Kind?« fragte er, wieder an Talianna gewandt. »Besser?«
Talianna nickte. »Danke. Das... Essen war sehr gut.
Ich hatte Hunger.«
Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht, hob die Hand und zerstrubbelte ihr das Haar. »Du kannst noch mehr bekommen, wenn du willst«, sagte er. »Es schmeckt vielleicht nicht so gut wie das, was ihr gekocht habt, aber es macht satt und stark.«
Gedelfi blickte Hraban aus seinen erloschenen Augen an. Seine Hände begannen mit einer Falte seines Gewandes zu spielen. »Ist das der Mann, von dem du erzählt hast, Talianna?« fragte er.
»Das bin ich«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.
»Was hat sie denn erzählt?«
»Daß Männer gekommen sind, die uns helfen wollen«, antwortete Gedelfi. »Aber ich weiß, wer ihr wirklich seid.«
»So?« Hraban lächelte noch immer, aber es war ein anderes Lächeln. Irgend etwas darin war erloschen, und dafür war etwas Anderes, Lauerndes, hinzugekommen.
»Weißt du das, alter Mann? Wer glaubst du, wer wir sind?«
»Ihr bringt den Tod«, sagte Gedelfi ernst. »Das weiß ich.«
Hraban lächelte noch immer, aber jetzt sah es wirklich gequält aus. Er widersprach dem Blinden nicht, aber er warf Talianna einen raschen Blick zu, der nimm-es-ihm-nicht-übel-was-geschehen-ist-war-zuviel-für-ihn sagte. Laut antwortete er: »Im Moment bringen wir euch nur Essen und unseren Wundscher, Alter. Und später bringen wir euch von hier fort.«
»Wohin?« fragte Talianna. Der Gedanke, von hier fort-gehen zu sollen, erschreckte sie. Andererseits - was sollte sie noch hier? All ihre Leute waren tot, und es gab nichts mehr, was sie wieder aufbauen konnten, schon gar nicht für ein zehnjähriges Mädchen und einen blinden Mann.
Hraban zuckte mit den Achseln und warf das ange-lutschte Stück Fleisch in die Flammen. »Wir werden sehen«, sagte er. »Mit uns kommen könnt ihr nicht, aber irgendwo bringen wir euch schon unter. In einer anderen Stadt.« Abermals zuckte er mit den Achseln, dann stand er auf, wischte die Hände an einem Zipfel seines schwarzen Bärenfell-Umhanges sauber und sah Talianna erwartungsvoll an. »Willst du unser Lager sehen?«
Talianna wollte ganz eindeutig. Nachdem sie ihre Furcht verloren hatte, hatten die zum Teil bizarren Gestalten in Hrabans Begleitung rasch ihre Neugier erweckt. Aber sie zögerte trotzdem, zu nicken.
»Geh ruhig, Talianna«, sagte Gedelfi, der ihr Schweigen richtig deutete. »Ich bin sicher hier. Und die anderen sind ja auch noch da.«
Talianna sprang auf und eilte an Hrabans Seite. Sie ließ es sogar zu, daß er sie bei der Hand nahm und neben sich herführte, obgleich ihr eine solche Behandlung unter normalen Umständen als viel zu kindlich vorgekommen wäre.
»Wer ist dieser alte Mann?« erkundigte sich Hraban, während sie am Ufer entlang auf das Lager zugingen.
»Dein Großvater?«
Talianna verneinte. »Er ist kein Verwandter«, sagte sie.
»Wir sind...« Sie suchte einen Moment nach dem richtigen Wort und fand es nicht. »Er ist blind, wißt Ihr?«
setzte sie schließlich von neuem an. »Und ich führe ihn.
Ich sage ihm, was ich sehe, und er erzählt mir dafür Geschichten. Manchmal«, fügte sie hinzu.
Tatsächlich war es sicherlich ein Jahr her, wenn nicht länger, daß Gedelfi ihr das letzte Mal eine Geschichte erzählt hatte. Sie mochte seine Geschichten, auch wenn sie meistens düster waren und keinen guten Ausgang hatten. Früher einmal war Gedelfi bei allen Kindern und auch so manchen Erwachsenen - seiner Geschichten wegen sehr beliebt gewesen. Aber seit einer Weile erzählte er nichts mehr, und wenn Talianna es recht bedachte, war das nicht alles. Gedelfi war sonderbar geworden, in den letzten Monaten. Vielleicht, dachte sie, begann er allmählich wirklich alt zu werden.
»Was mag er damit gemeint haben - wir bringen den Tod?« fragte Hraban.
Talianna zuckte nur hilflos die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist er einfach alt.«
Hraban lachte. »Oh ja«, sagte er. »Und alte Leute reden oft Unsinn, wie? Aber manche behaupten, daß gerade die Alten die Wahrheit sagen.« Er lachte noch einmal, blieb plötzlich stehen und deutete auf das schwarz gewordene Skelett eines Hauses, das so schräg dastand, daß es eigentlich längst hätte umkippen und in den Fluß stürzen müssen. Die ihnen zugewandte Seite des Hauses war zusammengebrochen, so daß man in sein Inneres sehen konnte. Unter den Trümmern waren deutlich die gewaltige Esse und ein ganzes Sammelsurium von Ambossen, Schmiedehämmern und anderen Werkzeugen zu erkennen. »Ihr habt Eisen und Stahl gemacht, nicht wahr?«
Talianna nickte. »Und andere Dinge aus Metall.«
»Ihr auch?« Hraban sah ihr verwirrtes Stirnrunzeln und konkretisierte seine Frage: »Deine Leute, meine ich.
Deine Familie.«
»Wir nicht.« Talianna schüttelte heftig den Kopf.
»Mein Vater hat... er war Händler. Wir haben Obst verkauft, Gemüse, auch ein paar Stoffe - alles was man so braucht, eben.« Sonderbar - warum hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? Hrabans Frage war sicherlich nicht sehr taktvoll, bedachte man, daß sie ihre Familie vor nicht einmal zwei Tagen verloren hatte. Aber es fiel ihr schwer zu glauben, daß dieser zwar sehr finstere, aber freundliche Mann irgend etwas Böses von ihr wollte.
Aber sie hatten das Lager jetzt erreicht, und was Talianna sah, ließ sie Gedelfis düstere Worte auf der Stelle vergessen. Die Söldner hatten einen langgezoge-nen Halbkreis aus Zelten am Flußufer errichtet, dahinter einen kleinen Pferch, in dem ihre Pferde angebunden waren. Und die gut dreißig Krieger, die noch im Lager zurückgeblieben waren, stellten das bunteste Sammelsurium der verschiedensten Völker und Wesen dar, das sich Talianna nur vorstellen konnte.
Die meisten - nicht alle - von ihnen waren menschlich, aber ihre zum Teil bizarren Kleider und Waffen schlugen Talianna fast sofort in ihren Bann. Für die nächste halbe Stunde war sie einfach nur ein zehnjähriges Kind, das alles ganz genau wissen wollte und Tausende von Fragen hatte, die sie gar nicht alle auf einmal aussprechen konnte. Hraban erwies sich jedoch als geduldiger Führer - er zeigte ihr dieses und jenes, beantwortete ihr alle ihre Fragen und zeigte sich äußerst verständnisvoll, wenn sie etwas nicht gleich begriff.
Talianna vergaß sogar das entsetzliche Unglück, das ihnen zugestoßen war, denn das Lager war für sie nicht mehr als ein großer, bunter Jahrmarkt, wenn auch hundertfach interessanter als der, der jedes Frühjahr in Stahldorf stattgefunden hatte.
Nicht alle Reittiere waren innerhalb des Pferches - ein gutes Stück vom Lager entfernt hockten zwei riesige stachelige Kolosse, braun und schwarz und so groß, daß Talianna im allerersten Moment einfach nicht glaubte, daß es lebende Wesen von dieser Größe - und vor allem Masse - überhaupt gäbe. Hraban lächelte, als er sah, wie sie die beiden gepanzerten Giganten mit offenem Mund und runden Augen anstarrte, sagte aber nichts, bis sie ihn schließlich fragte, was um alles in der Welt das sei.
»Hornbestien«, antwortete der Söldnerführer. »Du hast noch nie davon gehört?«
Talianna brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. Sie hatte von diesen Tieren gehört, so wie sie von vielen Dingen und Wesen gehört hatte, die es gab; irgendwo. Sie hatte auch gehört, daß sie sehr groß und unglaublich stark sein sollten, aber
- das??
»Willst du sie genauer sehen?« fragte Hraban freundlich. »Komm mit. Und keine Angst. Sie sind vollkommen harmlos. Für uns«, fügte er geheimnisvoll hinzu.