»Hm?«
»Erinnern Sie sich«, fragte Burrows, »an die Umstände, von denen Mr. Welkyn spricht? Hat Mr. Murray je Fingerabdrücke von Ihnen genommen?«
»Ach, das«, sagte Farnleigh, als spiele es keinerlei Rolle. »Doch, das weiß ich jetzt wieder. Ich hatte es vergessen. Aber vorhin, als ich mit Ihnen und meiner Frau gesprochen habe – Sie wissen schon –, da fiel es mir wieder ein. Ich hatte überlegt, ob es darauf hinauslaufen würde, und mir wurde gleich viel leichter ums Herz. Jawohl, der alte Murray hat seinerzeit meine Fingerabdrücke genommen.«
Der Herausforderer wandte sich um. Auf seinen Zügen spielte nicht nur leise Verblüffung, sondern ein plötzliches, erstauntes Mißtrauen.
»Damit kommen Sie nicht durch«, sagte er. »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie sich allen Ernstes dem Vergleich der Fingerabdrücke stellen?«
»Ob ich mich ihm stelle?« wiederholte Farnleigh mit grimmigem Vergnügen. »Besser hätte es doch gar nicht kommen können. Sie sind der Hochstapler, das wissen Sie genau. Murrays altes Fingerabdruckspiel – und jetzt, wo ich daran denke, sehe ich es wieder haargenau vor mir! –, das wird die Sache klären. Und dann kann ich Sie vor die Tür werfen.«
Die zwei Rivalen sahen sich an.
Seit einer ganzen Weile versuchte Brian Page nun schon, Gewichte in die beiden Waagschalen zu werfen, die einfach nicht stillstehen wollten. Er hatte versucht, ohne jeden Einfluß von Freundschaft und Vorurteil herauszufinden, wer die Wahrheit sprach und wer nicht. Die Frage war ja nicht schwer. Wenn Patrick Gore (um ihn bei dem Namen zu nennen, mit dem er eingetreten war) der Hochstapler war, so mußte er zu den glattesten und kaltschnäuzigsten Lügnern zählen, die je in eines Mannes Haus gekommen waren. Wenn der gegenwärtige John Farnleigh der Hochstapler war, dann war er nicht nur ein gerissener Gauner hinter der Maske des naiven und aufrechten Mannes, sondern dazu einer, der selbst vor Mord nicht zurückschreckte.
Es folgte eine Pause.
»Wissen Sie, mein Freund«, sagte der Herausforderer wie mit neu erwachtem Interesse, »ich bewundere Ihre Unverfrorenheit. Warten Sie. Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, es ist nicht als Herausforderung gemeint. Ich stelle ganz sachlich fest, daß ich die himmelschreiende Unverfrorenheit bewundere, die selbst einen Casanova vor Neid erbleichen ließe. Es wundert mich überhaupt nicht, daß Sie die Fingerabdrücke ›vergessen‹ haben. Damals habe ich mein Tagebuch noch nicht geführt. Aber daß Sie sagen, Sie hätten sie vergessen – daß Sie es wirklich wagen zu sagen, Sie hätten sie vergessen …«
»Was soll denn daran Besonderes sein?«
»John Farnleigh hätte das nicht vergessen; er hätte es unmöglich vergessen können. Ich, und ich bin John Farnleigh, habe es jedenfalls nicht vergessen. Das waren doch gerade die Dinge, derentwegen Kennet Murray der einzige Mensch auf der Welt war, von dem ich mir etwas sagen ließ. Murray hat mir beigebracht, wie man Fußspuren liest. Murray hat mir beigebracht, wie man Verkleidungen erkennt. Was Mörder mit ihren Leichen anstellen. Puh! Und was hat Murray alles von Fingerabdrücken erzählt, die damals in der Wissenschaft der letzte Schrei waren. Selbstverständlich weiß ich« – er unterbrach sich selbst, hob die Stimme und sah sich unter den Anwesenden um –, »daß Sir William Herschel den kriminologischen Wert von Fingerabdrücken schon in den 1850er Jahren entdeckte, und Ende der Siebziger entdeckte Dr. Faulds ihn noch einmal. Aber als Beweismaterial vor einem englischen Gericht wurden sie erst im Jahr 1905 anerkannt, und selbst da hatte der Richter noch seine Zweifel. Es blieb jahrelang ein heiß diskutiertes Thema, bis sie sich endlich durchgesetzt hatten. Und trotzdem sagen Sie, Sie seien nicht auf den Gedanken gekommen, daß es sich bei dem Beweis, den Murray vorlegen wollte, um Fingerabdrücke handeln könnte.«
»Sie reden eine ganze Menge«, sagte Farnleigh, der wiederum rot angelaufen war.
»Aber ja. Nie im Leben haben Sie an Fingerabdrücke gedacht, und plötzlich erinnern Sie sich. Dann verraten Sie mir doch, wie Murray die Abdrücke damals genommen hat.«
»Wie er sie genommen hat?«
»Nach welchem Verfahren.«
Farnleigh dachte nach. »Auf einer Glasplatte«, sagte er.
»Unsinn. Sie wurden auf Papier gemacht, das es in speziellen Heftchen gab – damals ein beliebtes Kinderspiel. Kleine graue Heftchen. Murray hatte eine große Sammlung von solchen Abdrücken, auch von meinen Eltern und überhaupt von allen, die bereit waren, sie ihm zu geben.«
»Warten Sie! Stimmt, jetzt sehe ich das Heft wieder vor mir – wir saßen drüben am Fenster …«
»Jetzt wollen Sie tun, als wüßten Sie es plötzlich.«
»Hören Sie«, sagte Farnleigh beherrscht, »für wen halten Sie mich eigentlich? Glauben Sie, ich bin einer von diesen Burschen im Varieté, denen die Leute Fragen stellen können, und sie wissen auf Anhieb, wie viele Paragraphen die Magna Carta hat oder welches Pferd beim Derby von 1882 als zweites ins Ziel kam? Genau wie einer von denen klingen Sie nämlich. Niemand merkt sich die kleinen Einzelheiten jedes Tages. Menschen verändern sich, das wissen Sie genausogut wie ich.«
»Aber doch nicht in ihrem innersten Wesen, so wie Sie sich geändert haben wollen. Darum geht es doch letzten Endes. Kein Mensch kann seine Seele in ihr Gegenteil verkehren.«
Während dieser ganzen Unterhaltung hatte Mr. Welkyn mit hochwichtiger Miene dabeigesessen, und seine vorstehenden blauen Augen strahlten Selbstgefälligkeit aus. Nun hob er die Hand.
»Meine Herren, meine Herren! Ist denn all diese Feindseligkeit wirklich – gehörig, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen? Die Angelegenheit läßt sich doch mit einigen wenigen Schritten regeln …«
»Ich bestehe darauf«, beharrte Nathaniel Burrows, »daß ich nicht davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß Fingerabdrücke als Beweismittel vorgelegt werden sollten, und muß im Interesse von Sir John Farnleigh …«
»Mr. Burrows«, sagte der Herausforderer ruhig, »Sie müssen es doch erraten haben, auch wenn wir vorzogen, es Ihnen nicht mitzuteilen. Sie müssen es vom ersten Tag an erraten haben, denn warum hätten Sie sonst auf unseren Anspruch eingehen sollen? Sie wollen nach beiden Seiten taktieren, damit Sie in jedem Falle fein dastehen, ganz gleich, ob sich Ihr Mann nun als Gauner entpuppt oder nicht. Nun, ich glaube, es wird allmählich Zeit, daß Sie sich zu unserer Seite bekennen.«
Farnleigh hielt in seinen Schritten inne.
Er warf den Schlüsselbund in die Luft, fing ihn mit einem dumpfen Platschen seiner Handfläche auf und schloß seine langen Finger darum.
»Ist das wahr?« fragte er Burrows.
»Wenn es wahr wäre, Sir John, dann hätte ich andere Schritte ergreifen müssen. Aber es ist meine Pflicht, mich zu vergewissern …«
»Schon gut«, sagte Farnleigh. »Ich wollte nur wissen, wo meine Freunde stehen. Ich sage ja nicht viel. Meine Erinnerungen, die guten wie die schlechten – und manche davon rauben mir nachts den Schlaf – behalte ich für mich. Legen Sie Ihre Fingerabdrücke vor, und dann werden wir sehen. Wo bleibt denn Murray? Wieso ist er nicht längst hier?«
Der Herausforderer strahlte vor mephistophelischer Freude und setzte dabei doch zugleich ein sinistres Stirnrunzeln auf.
»Wenn alles ginge, wie man es erwarten könnte«, sagte er mit Gusto, »dann wäre Murray längst ermordet, und seine Leiche läge im Gartenteich. Der Teich ist doch noch da, nicht wahr? (Hätte mich auch gewundert.) Aber in Wirklichkeit ist er wohl auf dem Weg zu uns. Und ich will niemanden auf dumme Gedanken bringen.«
»Dumme Gedanken?« fragte Farnleigh.
»Na, wie es bei Ihnen damals war. Ein schneller Schlag und ein feines Leben.«
Diese Worte schienen den ganzen Raum mit einer Kälte zu überziehen. Farnleighs Stimme war hoch und heiser. Er hob die Hand, dann streifte er sie über die Seite seiner Tweedjacke, wie in einer nervösen Geste, mit der er sich beschwichtigen wollte. Das Geschick, mit dem sein Gegner immer wieder genau die Sätze vorzubringen wußte, die ihm einen Stich versetzten, war geradezu unheimlich. Farnleigh hatte einen recht langen Hals, und um so deutlicher sah man nun, wie er ihm schwoll.