»Nein«, sagte Burrows. »Und Sie haben ja gewiß ebenfalls mit niemandem gesprochen?«
Murray runzelte die Stirn.
»Da muß ich mich schuldig bekennen. Einen gibt es, dem ich davon erzählt habe. Aber wenn Sie hören, wer es ist, werden Sie es mir, glaube ich, nicht übelnehmen. Es ist mein alter Freund Dr. Gideon Fell, von dessen Detektivarbeit Sie vielleicht gehört haben. Früher war er ein Schulmeister wie ich, und als ich in London Station machte, habe ich ihn besucht. Ich – ähm – möchte Sie in diesem Punkte warnen.« Bei allem Wohlwollen blickten Murrays zusammengekniffene graue Augen nun hart und klar und aufmerksam drein. »Es kann gut sein, daß Dr. Fell demnächst höchstpersönlich hier auftauchen wird. Sie wissen, daß außer mir noch jemand im Bull and Butcher abgestiegen ist, ein Mann, der gern die Leute ausfragt?«
»Der Privatdetektiv?« fragte Farnleigh streng, und der Herausforderer wirkte verblüfft.
»Sie sind also darauf hereingefallen?« sagte Murray. »Das war Dr. Fells Idee. Der Mann ist ein Detektiv und ermittelt offiziell für Scotland Yard. Dr. Fell meinte, niemand werde darauf kommen, daß er Kriminalbeamter ist, wenn er sich benimmt wie ein Privatdetektiv.« Murray amüsierte sich sichtlich darüber, doch seine Augen blieben streng. »Die Grafschaftspolizei hat jemanden angefordert, der die Umstände aufklären soll, unter denen im letzten Sommer Miss Victoria Daly zu Tode gekommen ist.«
Alle waren verblüfft.
Nathaniel Burrows machte eine ärgerliche Handbewegung.
»Miss Daly wurde von einem Landstreicher umgebracht, der später seinerseits auf der Flucht vor der Polizei sein Ende fand.«
»Wir wollen es hoffen. Ich habe es nur im Vorbeigehen gehört, als ich mit Dr. Fell über mein eigenes kleines Rätsel der vertauschten Identitäten sprach. Die Sache interessierte ihn.« Wieder wurde Murrays Stimme streng und, wenn man das von einer Stimme sagen kann, undurchschaubar. »Nun, junger Johnny …«
Selbst die Luft im Zimmer schien unbewegt. Der Herausforderer nickte. Dann nickte auch der Gastgeber, doch Page hatte den Eindruck, daß seine Stirn ein wenig glänzte, als stünde ihm der Schweiß darauf.
»Können wir die Sache denn nicht hinter uns bringen?« fragte Farnleigh. »Was haben wir denn davon, wenn wir Katz und Maus spielen, Mr. … Was haben wir davon, wenn wir Katz und Maus spielen, Murray? Das ist kindisch, und es ist gar nicht Ihre Art. Wenn Sie die Fingerabdrücke haben, zeigen Sie sie her, und dann sehen wir weiter.«
Murray hob die Augenbrauen, dann kniff er die Augen wieder zusammen. Er schien verärgert.
»Davon wissen Sie also. Das hatte ich mir aufgehoben. Und darf ich fragen« – er sagte es sarkastisch und zugleich mit der Sachlichkeit des Profis –, »welcher von Ihnen beiden auf die Idee kam, daß der letzte Beweis die Fingerabdrücke sein würden?«
»Ich glaube, diese Ehre kann ich für mich beanspruchen«, antwortete der Herausforderer und sah sich mit fragender Miene um. »Mein Freund Patrick Gore sagt, später sei es ihm ebenfalls wieder eingefallen. Allerdings war er offenbar im Glauben, Sie hätten die Abdrücke auf einer Glasplatte genommen.«
»Genauso war es«, erwiderte Murray.
»Das ist gelogen«, sagte der Herausforderer.
Der Wandel in seinem Tonfall kam unerwartet. Plötzlich ging es Brian Page auf, daß hinter der glatten mephistophelischen Art des Herausforderers ein gefährliches Temperament lauerte.
»Sir«, erwiderte Murray und sah ihn von oben bis unten an, »es ist nicht meine Art …«
Sogleich war es, als stünde der Schüler wieder vor dem Lehrer und werde unwillkürlich um Verzeihung bitten. Aber er zwang den Impuls nieder. Sein Gesicht entspannte sich, und der gewohnte spöttische Eindruck kehrte zurück.
»Dann lassen Sie mich sagen, ich habe es anders in Erinnerung. Sie haben meine Fingerabdrücke in einem grauen Heftchen genommen. Sie hatten mehrere solche Hefte – Sie haben sie in Tunbridge Wells gekauft. Sie nahmen meine und die meines Bruders Dudley am selben Tag.«
»Das«, sagte Murray, »ist die Wahrheit. Ich habe das Heft mit den Abdrücken hier.« Er fuhr sich mit der Hand über die Innentasche seiner Sportjacke.
»Ich rieche Blut!« rief der Herausforderer.
Tatsächlich hatte sich eine gänzlich neue Stimmung des Grüppchens am Tisch bemächtigt.
»Zugleich«, fuhr Murray fort, als habe er den Einwurf gar nicht gehört, »ist es aber auch die Wahrheit, daß ich meine ersten Experimente mit Fingerabdrücken auf Glasplättchen machte.« Sein Ton wurde noch sachlicher und strenger. »Sie, Sir, als Herausforderer oder Kläger in diesem Falle, müssen bereit sein, mir einige Auskünfte zu geben. Wenn Sie wirklich Sir John Farnleigh sind, dann werde ich bestimmte Dinge über Sie wissen, die niemand sonst weiß. Sie haben damals Bücher geradezu verschlungen. Sir Dudley, der, wie Sie zugeben werden, ein aufgeklärter Mann war, hatte eine Liste von Werken zusammengestellt, die Sie lesen durften. Welche davon Sie mochten und welche nicht, haben Sie nie jemandem verraten – Sir Dudley hatte einmal einen harmlosen Scherz über Ihre Vorlieben gemacht, und danach hätte man die Auskunft nicht einmal auf der Folterbank aus Ihnen herausbekommen. Mir gegenüber haben Sie allerdings von Ihren Vorlieben gesprochen, und das eindeutig genug. Erinnern Sie sich daran?«
»Daran erinnere ich mich gut«, erwiderte der Herausforderer.
»Dann seien Sie doch so freundlich und sagen Sie mir, welche dieser Bücher Sie am meisten mochten und welche den größten Eindruck auf Sie machten.«
»Mit Freuden«, erwiderte der Herausforderer und hob den Blick. »Sherlock Holmes, alles was es gab. Desgleichen Poe. Charles Reade. Der Graf von Monte Cristo. Entführt. Die Geschichte zweier Städte. Alles, was ich an Gespenstergeschichten fand. Alles, was mit Piraten zu tun hatte, mit Mördern, verfallenen Burgen …«
»Das genügt«, sagte Murray mit neutraler Stimme. »Und die Bücher, die Sie am wenigsten mochten?«
»Jede bleierne Zeile von Jane Austen und George Eliot. Alle verlogenen Schulgeschichten, wo es um ›die Ehre der Schule‹ und dergleichen ging. Alle ›nützlichen‹ Bücher, aus denen man lernen konnte, wie Maschinen funktionierten und wie man damit umging. Alle Tiergeschichten. Das sind, wenn ich das hinzufügen darf, im großen und ganzen bis heute meine Vorlieben geblieben.«
Brian Page fand allmählich, daß der Herausforderer doch gar kein so unsympathischer Bursche war.
»Nehmen wir uns die jüngeren Kinder vor, die es hier gab«, fuhr Murray fort. »Die heutige Lady Farnleigh zum Beispiel, die ich als kleine Molly Sutton kannte. Wenn Sie John Farnleigh sind, werden Sie mir sagen können, welchen Spitznamen Sie für sie hatten.«
»Ich habe sie ›die Zigeunerin‹ genannt«, erwiderte der Herausforderer, ohne zu zögern.
»Weshalb?«
»Weil sie immer braune Haut hatte und weil sie immer mit den Kindern der Zigeunerfamilie gespielt hat, die früher jenseits des Wäldchens kampierte.«
Er warf der wütenden Molly einen Blick zu, mit dem Anflug eines Lächelns.
»Und Mr. Burrows dort drüben, wie haben Sie den immer genannt?«
»Uncas.«
»Der Grund dafür?«
»Wenn wir Spion oder so etwas spielten, konnte er lautlos durchs Gebüsch schleichen.«
»Ich danke Ihnen. Und nun zu Ihnen, Sir.« Murray wandte sich Farnleigh zu und sah ihn an, als werde er ihn gleich ermahnen, seine Krawatte richtig zu binden. »Ich habe nicht die Absicht, Katz und Maus zu spielen. Deshalb nur eine einzige Frage an Sie, bevor ich Ihnen beiden dann die Fingerabdrücke abnehme. Von der Antwort auf diese Frage wird mein eigenes privates Urteil abhängen, bevor ich dann den Beweis in den Abdrücken finde. Die Frage lautet: Was ist das Rote Buch von Appin?«