»Wir können nichts mehr für ihn tun«, sagte er. »Seine Kehle ist durchschnitten.«
Beide standen noch unter dem Einfluß des Schocks und sprachen wie in Trance.
»Ja. Ich hatte es schon befürchtet. Es ist …«
»Es ist Mord. Oder«, fügte Page abrupt hinzu, »Selbstmord.«
Sie sahen sich im Dunkel an.
»So oder so«, sagte Burrows und versuchte, sachlich und milde zugleich zu klingen, »wir müssen versuchen, ihn herauszubekommen. Daß man nichts anrühren soll, bis die Polizei kommt, ist schön gesagt, aber wir können ihn doch nicht so liegenlassen. Das wäre nicht anständig. Außerdem haben wir seine Lage ohnehin schon verändert. Sollen wir …?«
»Ja.«
Es war, als habe der Tweedanzug, jetzt schwarz und dick, eine ganze Tonne Wasser aufgesogen. Unter großen Mühen rollten sie Farnleigh über die Kante, wobei eine kleinere Flutwelle über sie schwappte. Die friedliche Abendstimmung des Gartens, allem voran der Rosenduft, waren nie unwirklicher und romantischer gewesen als inmitten dieser Realität. Page dachte nur immer wieder: Das ist John Farnleigh, und er ist tot. Das ist unmöglich. Und es wäre ja auch unmöglich gewesen, wäre ihnen nicht eines von Sekunde zu Sekunde klarer geworden.
»Es war Selbstmord«, sagte Burrows und wischte sich die Hände ab. »Den Mord haben wir uns einreden lassen; aber schöner ist das, was wir hier haben, ja nicht. Du siehst, worauf es hinausläuft, nicht wahr? Darauf, daß er der Hochstapler war. Er spielte sein Spiel bis zuletzt und hoffte wider alle Vernunft, daß Murray doch ohne Fingerabdrücke käme. Als die Abdrücke genommen waren, konnte er den Gedanken an die Folgen nicht ertragen. Also kam er hier heraus, stellte sich an den Rand des Teiches und …« Burrows fuhr sich mit der Hand über den Hals.
Alles paßte zusammen.
»Ich fürchte, du hast recht«, gab Page zu. Er fürchtete es? Ja. War das denn nicht das Schlimmste, dessen man einen toten Freund beschuldigen konnte? Alles ihm zur Last legen, nun, wo er sich nicht mehr verteidigen konnte? Widerstand regte sich wie ein dumpfer Schmerz, denn John Farnleigh war sein Freund gewesen. »Aber was soll man anderes glauben? Was, um Himmels willen, ist hier geschehen? Hast du gesehen, wie er es tat? Womit hat er es getan?«
»Nein, gesehen habe ich es nicht. Jedenfalls nicht genau. Ich kam gerade durch die Tür aus der Eingangshalle. Ich hatte mir diese Lampe« – Burrows schaltete sie ein und aus und hielt sie in die Höhe – »aus der Schublade dort geholt. Du weißt ja, ich sehe im Dunkeln nicht gut. Als ich die Tür öffnete, sah ich Farnleigh dort stehen – nur die Umrisse natürlich –, am Rand des Teiches, den Rücken zu mir. Dann schien er etwas zu tun, bewegte sich hin und her – ich konnte es nicht erkennen. Die Laute wirst du selbst gehört haben. Als ich das Platschen hörte – und das schlagende Geräusch, das war ja noch schlimmer. Hat man je etwas Entsetzlicheres erlebt?«
»Aber es war niemand in der Nähe?«
»Nein«, sagte Burrows und preßte sich die Spitzen der ausgestreckten Finger an die Schläfen. »Jedenfalls nicht – wirklich. Diese Hecken reichen einem bis zur Taille, und …«
Page kam nicht dazu nachzuforschen, was es zu bedeuten hatte, wenn für den notorisch peniblen Nathaniel Burrows etwas »nicht wirklich« war. Stimmen und Schritte drangen vom Haus herüber, und er sprach hastig.
»Du hast Autorität hier. Sie kommen alle herüber. Molly darf das nicht sehen. Du mußt ihr entgegentreten und sie aufhalten.«
Burrows räusperte sich ein paarmal, wie ein nervöser Redner, der zu einer Ansprache ansetzt, und nahm die Schultern zurück. Mit eingeschalteter Taschenlampe ging er in Richtung Haus. Der Strahl traf auf Molly und Kennet Murray, der ihr nachfolgte; er leuchtete ihnen jedoch nicht ins Gesicht.
»Es tut mir leid«, sagte Burrows in hohen, unnatürlich schneidenden Tönen. »Aber Sir John ist etwas zugestoßen, und Sie sollten besser nicht dort hinübergehen …«
»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Molly mit harscher Stimme. Energisch stapfte sie hinüber zum Teich. In dem Dunkel konnte sie zum Glück das ganze Ausmaß der Tat nicht erkennen. Sie gab sich ruhig, doch Page konnte hören, wie sie den Absatz in den Sand bohrte. Er legte ihr tröstend den Arm um die Schulter; sie lehnte sich dagegen, und er spürte, wie sie in heftigen Stößen atmete. Doch was sie mit einem Schluchzen hervorstieß, blieb rätselhaft. Molly sagte:
»Zum Teufel mit ihm, er hat es gewußt!«
Der Ton verriet Page, daß sie damit nicht ihren Mann meinen konnte. Doch der Satz verwirrte ihn so, daß ihm nichts darauf einfiel. Dann verbarg sie ihr Gesicht selbst vor dem Dunkel und ging mit schnellen Schritten zum Haus.
»Lassen Sie sie gehen«, sagte Murray. »Das ist besser für sie.«
Doch Murray schien bei der Bewältigung einer solchen Aufgabe nicht so fähig, wie man gedacht hätte. Er zögerte. Er nahm Burrows die Taschenlampe aus der Hand und richtete den Lichtstrahl auf den Toten am Teich. Dann stieß er einen Pfiff aus, und Zähne blitzten zwischen gestutztem Schnurrbart und Bart.
»Haben Sie belegen können«, fragte Page, »daß Sir John Farnleigh nicht Sir John Farnleigh war?«
»Wie bitte?«
Page wiederholte die Frage.
»Ich habe«, antwortete Murray mit großem Nachdruck, »nicht das geringste belegt. Mein Vergleich der Abdrücke war noch nicht abgeschlossen; ich hatte ja kaum wirklich begonnen.«
»Wie es scheint« – Burrows sagte es matt –, »wird es nun nicht mehr nötig sein, ihn zu Ende zu bringen.«
Und so schien es ja wirklich. Niemand konnte ernsthaft daran zweifeln, daß Farnleigh sich selbst das Leben genommen hatte. Page sah, daß Murray in seiner manchmal zerstreuten Art nickte – nickte, als sei er in Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigt, und dazu fuhr er sich mit der Hand über den Bart wie ein Mann, der versucht, sich an etwas zu erinnern. Er rang zwar nicht physisch mit seiner Erinnerung, aber den Eindruck vermittelte er doch.
»Große Zweifel können Sie doch nicht haben, oder?« hakte Page noch einmal nach. »Was würden Sie sagen, welcher von beiden war der Falsche?«
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe …« hob Murray ärgerlich an.
»Ja, ich weiß, aber ich wollte doch nur wissen, welchen von beiden Sie für den Hochstapler gehalten haben. Sie haben doch sicher ein Gefühl gehabt, nachdem Sie mit beiden gesprochen hatten. Darauf kam es doch letzten Endes an, bei der Erbschaftssache und auch bei dem, was wir jetzt hier haben, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie wirklich noch Beweise brauchten. Wenn Farnleigh der Hochstapler war, dann hatte er guten Grund, sich umzubringen, und dann können wir davon ausgehen, daß es Selbstmord war. Aber wenn es denkbar ist, daß er derjenige war …«
»Sie vermuten …«
»Nein, nein, ich frage nur. Wenn er der echte Sir John Farnleigh gewesen wäre, hätte er keinen Grund gehabt, sich die Kehle durchzuschneiden. Also muß er der Hochstapler gewesen sein, oder?«
»Die Tendenz zu gedanklichen Kurzschlüssen ohne jede Berücksichtigung der Sachlage«, hob Murray in einem Ton zwischen Tadel und gemütlicher Plauderei an, »ist bei nicht-akademischen Geistern weit verbreite…«
»Gut, ich ziehe die Frage zurück«, sagte Page.
»Aber nicht doch, da verstehen Sie mich miß.« Murray hob beschwörend die Hand wie ein Hypnotiseur; anscheinend irritierte ihn die Verwirrung, die in das Gespräch geraten war. »Sie suggerieren, daß es sich um Mord handeln könne, weil – ähm – der unglückliche Gentleman, der hier vor uns liegt, sich nicht selbst umgebracht hätte, wenn er der echte John Farnleigh wäre. Aber ganz gleich, ob er nun der echte Johnny war oder nicht, warum hätte ihn denn jemand anderes töten sollen? Wenn er ein Betrüger war, warum ihn umbringen? Das Gesetz hätte sich schon um ihn gekümmert. Und wenn er der echte war, warum ihn umbringen? Er hatte niemandem etwas getan. Sie sehen, ich versuche nur, die Sache von beiden Seiten zu sehen.«