»Sich ausgibt?«
»Daß Sir John Farnleigh«, erklärte Burrows mit sorgfältigen Worten, »ein Betrüger und Hochstapler ist, der in Wirklichkeit gar nicht Sir John Farnleigh ist?«
»Hast du einen Sonnenstich?« fragte der andere und richtete sich auf. Was er gehört hatte, verblüffte und ärgerte ihn, es hatte ihn aus der Fassung gebracht, und das gerade zur trägsten Stunde an einem heißen Tag. »Nie im Leben habe ich Grund gehabt, so etwas zu glauben. Warum sollte ich auch? Worauf zum Teufel willst du hinaus?«
Nathaniel Burrows sprang aus seinem Sessel auf und legte statt dessen den Koffer dort ab.
»Ich sage das«, erklärte er, »weil ein Mann aufgetaucht ist, der behauptet, er sei der echte John Farnleigh. Nicht erst seit heute. Es geht schon seit ein paar Monaten, aber jetzt spitzt sich die Sache zu. Ähm …« Er zögerte und blickte sich um. »Ist sonst noch jemand im Haus? Mrs. Wie-heißt-sie-gleich? Du weißt schon, die Zugehfrau – oder sonst jemand?«
»Nein.«
Burrows flüsterte beinahe. »Ich dürfte dir das nicht verraten. Aber ich weiß, daß ich dir vertrauen kann, und ich bin, unter uns gesagt, in einer prekären Lage. Die Sache wird nicht ohne Ärger abgehen. Der Fall Tichborne war ein Ammenmärchen dagegen. Natürlich habe ich – ähm – offiziell bisher keinerlei Grund zu der Annahme, daß der Mann, dessen Angelegenheiten ich regle, nicht Sir John Farnleigh ist. Meine Aufgabe ist es, Sir John Farnleigh zu dienen – dem echten. Aber das ist es ja gerade. Wir haben zwei Männer. Einer davon ist der echte Baronet, und der andere ist ein Betrüger. Die beiden Männer haben nichts gemeinsam; sie sehen sich nicht einmal ähnlich. Und trotzdem – selbst wenn mein Seelenheil davon abhinge, könnte ich nicht sagen, welcher von beiden welcher ist.« Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Aber zum Glück sieht es aus, als könne die Sache heute abend entschieden werden.«
Page wußte zunächst nicht, was er darauf erwidern sollte. Er schob seinem Gast den Zigarettenkasten hin, steckte sich selbst eine an und betrachtete Burrows nachdenklich.
»Da rollen die Donnerschläge ja nur so«, sagte er. »Und wie hat es angefangen? Wie ist überhaupt jemand auf die Idee gekommen, daß sich ein Hochstapler eingeschlichen hat? Ist davon früher schon einmal die Rede gewesen?«
»Nein, und du wirst auch noch sehen, warum.« Burrows holte ein Taschentuch hervor, wischte sich mit aller Sorgfalt das Gesicht und nahm wieder Platz. »Ich hoffe ja immer noch, es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Ich mag John und Molly – Sir John und Lady Farnleigh, wollte ich sagen –, ich mag sie sogar sehr. Wenn der Herausforderer der Hochstapler ist, werde ich vor Freude auf dem Dorfanger tanzen – na, das vielleicht doch nicht –, aber ich werde dafür sorgen, daß er wegen Meineids hinter Gitter wandert, und zwar länger als Arthur Orton seinerzeit. Aber jetzt sollte ich dir, damit du heute abend Bescheid weißt, erzählen, was es mit der Sache auf sich hat und wie es überhaupt zu dem ganzen gräßlichen Durcheinander gekommen ist. Kennst du Sir Johns Geschichte?«
»Die groben Züge.«
»Man sollte immer mehr als die groben Züge wissen«, tadelte Burrows und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Schreibst du so deine historischen Artikel? Ich will es nicht hoffen. Hör mir zu und präge dir diese paar einfachen Fakten gut ein.
Wir gehen fünfundzwanzig Jahre zurück, zu der Zeit, als der heutige Sir John Farnleigh fünfzehn war. Er kam 1898 zur Welt, der zweite Sohn des alten Sir Dudley und der damaligen Lady Farnleigh. Damals kam niemand auf die Idee, daß er den Titel erben könnte: Der ältere Sohn, Dudley, war der Stolz und die Freude seiner Eltern.
Und sie stellten hohe Ansprüche an ihre Söhne. Der alte Sir Dudley (ich habe ihn mein Leben lang gekannt) war ein Spätviktorianer von der strengsten Sorte. Nicht ganz so zugeknöpft, wie solche Leute heute in den Romanen hingestellt werden, aber ich weiß noch, daß ich als Kind immer überrascht war, wenn er mir einmal einen Sixpence schenkte.
Der junge Dudley war ein braver Junge. John nicht. Er war ein finsteres, stilles, unberechenbares Kind, und so mürrisch, daß man ihm selbst die leichtesten Verstöße nicht verzieh. Er tat nichts Schlimmes, aber er wollte sich nicht fügen und wollte als Erwachsener behandelt werden, lange bevor er es war. 1912, als er fünfzehn war, hatte er eine ausgewachsene Affäre mit einem Barmädchen in Maidstone …«
Page stieß einen Pfiff aus. Er blickte zum Fenster hinaus, so als erwarte er, daß Farnleigh vorbeikomme.
»Mit fünfzehn?« fragte Page. »Der muß es ja faustdick hinter den Ohren gehabt haben.«
»Das hatte er.«
Page zögerte. »Aber weißt du, nach dem, was ich von ihm kenne, hätte ich immer gedacht, daß Farnleigh …«
»Ein wenig puritanisch ist?« schlug Burrows vor. »Stimmt. Aber wir reden ja auch von einem fünfzehnjährigen Jungen. Daß er sich mit Okkultismus beschäftigte, mit Hexerei und Satanskult, das war schlimm genug. Daß sie ihn in Eton der Schule verwiesen hatten, war schlimmer. Aber der Skandal mit dem Barmädchen gab ihm den Rest. Sie erklärte, sie sei schwanger von ihm. Sir Dudley Farnleigh kam zu dem Schluß, daß der Junge durch und durch schlecht sei, ein Rückfall auf die satanischen Farnleighs früherer Generationen, daß nichts ihn jemals ändern würde und daß er ihn nicht mehr sehen wolle. Die üblichen Maßnahmen wurden ergriffen. Lady Farnleigh hatte einen Vetter in Amerika, der es zu einigem Vermögen gebracht hatte, und John wurde in die Staaten abgeschoben.
Der einzige, der ihn auch nur halbwegs bändigen konnte, war ein Hauslehrer namens Kennet Murray. Der Lehrer, damals ein junger Bursche von zwei- oder dreiundzwanzig, war nach Farnleigh Close gekommen, nachdem John die Schule verlassen mußte. Kennet Murray, das ist wichtig, hatte ein Hobby, und zwar die Kriminologie – das knüpfte von Anfang an eine Verbindung zwischen ihm und dem Jungen. Es galt damals nicht gerade als Beschäftigung für einen Gentleman, doch Sir Dudley mochte Murray und erhob keine Einwände.
Nun ergab es sich, daß Murray gerade zu dieser Zeit einen guten Posten als stellvertretender Leiter einer Schule in Hamilton auf Bermuda angeboten bekam – wenn er denn bereit war, sein Glück so weit fernab der Heimat zu machen. Murray nahm an; im Herrenhaus wurden seine Dienste ja nicht mehr gebraucht. Man kam überein, daß Murray und der Junge die Überfahrt nach New York gemeinsam unternehmen sollten, damit der Lehrer bis dahin noch ein Auge auf ihn halten konnte. Er sollte den Jungen Lady Farnleighs Vetter übergeben und dann von dort den Dampfer nach Bermuda nehmen.«
Nathaniel Burrows hielt inne und dachte über diese längst vergangenen Zeiten nach.
»Ich persönlich kann mich an diese Zeit kaum noch erinnern«, fügte er hinzu. »Wir jüngeren Kinder wurden von dem verdorbenen John ferngehalten. Aber die kleine Molly Sutton, die damals erst sechs oder sieben war, war ganz vernarrt in ihn. Sie ließ es nicht zu, daß auch nur ein schlechtes Wort über ihn gesprochen wurde, und daß sie ihn jetzt geheiratet hat, wird vielleicht noch wichtig. Ich habe noch eine vage Erinnerung an den Tag, an dem John zum Bahnhof gebracht wurde, in einer offenen Kutsche, einen flachen Strohhut auf dem Kopf, und Kennet Murray saß neben ihm. Sie sollten am nächsten Tag ablegen, der aus mehr als nur einem Grunde ein Festtag war. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß das Schiff, auf dem sie fuhren, die Titanic war.«
Nun waren Burrows und Page beide in ihren Gedanken bei der Vergangenheit. Letzterer erinnerte sich daran als eine Zeit der Verwirrung, der Propaganda, der Anschlagzettel an den Straßenecken, der Gerüchte, denen jede Grundlage fehlte.
»Die unsinkbare Titanic rammte einen Eisberg und sank in der Nacht zum 15. April 1912«, fuhr Burrows fort. »In dem Durcheinander wurden Murray und der Junge getrennt. Murray trieb achtzehn Stunden lang im eiskalten Wasser, klammerte sich mit zwei oder drei anderen an ein hölzernes Geländer. Sie wurden von einem Frachter aufgefischt, der Colophon – unterwegs nach Bermuda. Murray kam dahin, wohin er eigentlich gewollt hatte. Und als er per Funkspruch erfuhr, daß John Farnleigh in Sicherheit war, und ein Brief es ihm später noch bestätigte, machte er sich keine weiteren Gedanken mehr.