»Ich sah mich gezwungen«, sagte Murray mit ernster Miene, »in den Schrank dort zu steigen.« Er wies mit einem Kopfnicken auf einen alten Bücherschrank, der auf der Fensterseite in die Wand eingelassen war. »Ich sollte ja über das Alter hinaus sein, aber es war ein Gefühl, als mogelte ich bei einer Prüfung.«
Inspektor Elliot sagte kein Wort. Er blickte zuerst den einen, dann den anderen forschend an, dann schrieb er etwas in sein Notizbuch.
»Hmpf, ja. Sie wurden aufgehalten«, sagte Dr. Fell. »Mr. Page hier, der nur ein paar Minuten vor dem Mord auf seinem Weg zum hinteren Teil des Gartens am Fenster vorüberkam, sagt, Sie hätten das Heft eben erst aufgeschlagen, als er hineinsah. Sie werden also mit Ihrer Arbeit nicht mehr weit gekommen sein …«
»Drei oder vier Minuten«, präzisierte Murray.
»Eben. Es blieb praktisch keine Zeit, noch etwas zu bestimmen, bevor draußen Mordio gerufen wurde.« Dr. Fell machte eine gequälte Miene. »Nun sind Sie, mein lieber junger Murray, kein Dummkopf. Ein solcher Alarm konnte ein Trick sein. Aber ein Trick, von dem jemand wie Sie sich nicht täuschen ließ. Nie im Leben wären Sie nach draußen gestürmt und hätten das Heft mit dem entscheidenden Abdruck auf dem Tisch liegenlassen, wo jeder es holen konnte. Das konnte ich einfach nicht glauben, als ich das hörte. Nein, nein, nein. Das echte wanderte wieder in Ihre Tasche, und das wertlose kam als hübscher Köder auf den Tisch. Nicht wahr?«
»Zum Teufel mit Ihnen«, sagte Murray, doch ohne Wut.
»Sie hielten also den Mund, als das falsche Heft gestohlen wurde, und machten sich im stillen Kämmerlein an die Detektivarbeit. Wahrscheinlich haben Sie die ganze Nacht an Ihrer Expertise über die Fingerabdrücke gearbeitet, das echte Buch aufgeschlagen vor Ihnen, und haben längst schriftlich niedergelegt, welcher nach Ihrem Urteil der echte Erbe …«
»Und welcher ist es?« fragte Patrick Gore kühl.
»Na, Sie natürlich«, brummte Dr. Fell.
Dann sah er Murray an.
»Zum Donnerwetter«, fügte er grimmig hinzu, »das müssen Sie doch auf Anhieb gewußt haben! Er war Ihr Schüler. Da merkt man so etwas doch. Mir war es klar, als er zum erstenmal den Mund aufmachte …«
Der Herausforderer, der aufgesprungen war, setzte sich nun recht mühsam wieder. Sein Gesicht hatte etwas geradezu Äffisches vor Freude, die hellgrauen Augen und selbst der kahle Fleck am Kopf schienen zu funkeln.
»Dr. Fell, ich danke Ihnen«, sagte Gore und legte die Hand aufs Herz. »Aber ich muß doch darauf hinweisen, daß Sie mir keine einzige Frage gestellt haben.«
»Also, meine Herren«, sagte Dr. Fell. »Sie alle hatten gestern abend Gelegenheit, ihm zuzuhören. Sehen Sie ihn sich an. Hören Sie, wie er spricht. Erinnert er Sie an jemanden? Ich meine nicht das Äußere; ich meine seine Art zu reden, die Art von Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, die Art, wie er sie ausdrückt. Also, an wen erinnert er Sie? Hm?«
Der Doktor zwinkerte in die Runde, und endlich verstand Page das Gefühl, mit dem er sich von Anfang an herumgeschlagen hatte – das Gefühl, daß ihm Gore vage bekannt vorgekommen war.
»An Murray«, sagte Page in das Schweigen hinein.
»An Murray. Da haben Sie es auf den Punkt gebracht. Natürlich im Laufe der Zeit ein wenig uneindeutiger geworden, beeinflußt vom eigenen Charakter – aber doch immer noch deutlich und offensichtlich genug. An Murray, der in den entscheidenden Jahren seines Lebens fast der einzige war, der ihn prägte. Sehen Sie sich doch seine Körperhaltung an, hören Sie doch, wie er mit homerischem Atem seine Sätze baut. Die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich, das gebe ich gerne zu; in ihrer Natur sind die beiden sich nicht ähnlicher, als ich meinen Kollegen Elliot oder Hadley ähnlich bin. Aber das Echo ist noch zu hören. Glauben Sie mir, die einzig wichtige unter den Fragen, die Murray gestern abend gestellt hat, war jene nach der Lektüre des Jungen, danach, welche Bücher der echte John Farnleigh mochte und welche nicht. Sehen Sie sich den Burschen an!« Er zeigte mit dem Finger auf Gore. »Haben Sie mir nicht erzählt, wie seine Augen leuchteten, als er vom Grafen von Monte Cristo sprach, von Stevenson? Und von den Büchern, die er damals nicht ausstehen konnte und bis heute verachtet? Kein Hochstapler würde es wagen, so vor jemandem zu sprechen, der die Vorlieben und Ansichten des Echten so gut kennen mußte. In so einem Fall haben Fakten nicht die geringste Bedeutung. Jeder kann Fakten büffeln. Entscheidend ist, wo sich das Innere des Jungen zeigt. Glauben Sie mir, Murray: Es wird Zeit, daß Sie Ihr Spiel aufgeben und Farbe bekennen. Ich kann ja verstehen, daß Sie gern den Meisterdetektiv spielen, aber inzwischen geht es zu weit.«
Ein roter Streifen zeigte sich auf Murrays Stirn. Er sah ärgerlich aus, auch ein wenig verlegen. Doch sein Verstand fand etwas, woran er sich festhalten konnte.
»Fakten bedeuten sehr wohl etwas«, sagte Murray.
»Glauben Sie mir«, donnerte Dr. Fell, »Fakte…« Er riß sich zusammen. »Ahemm. Nun gut. Vielleicht übertreibe ich. Ein wenig. Aber stimmt es, was ich sage?«
»Er kannte das ›Rote Buch von Appin‹ nicht. Er hat mir aufgeschrieben, so etwas gebe es nicht.«
»Weil es für ihn nur ein Manuskript war. Aber mir liegt nichts daran, mich für ihn einzusetzen. Ich möchte nur wissen, ob meine Analyse korrekt ist.«
»Verdammt noch mal, Fell, Sie können einem aber auch wirklich den Spaß verderben«, klagte Murray, nun in etwas anderem Ton. Er sah Gore an. »Jawohl, das ist der echte Johnny Farnleigh. Hallo, Johnny.«
»Hallo«, sagte Gore. Und zum erstenmal, seit Page ihn kennengelernt hatte, wirkte sein Gesicht nicht hart.
Es herrschte Stille in dem Raum, doch eine, die sich zusehends verflüchtigte, als fände alles den Platz wieder, an den es gehörte, und ein verschwommenes Bild werde nach und nach scharf. Gore und Murray blickten beide zu Boden, doch auf eine unbestimmte, unbequeme Art schienen sie froh. Welkyns Stimme erhob sich in all ihrer Fülle und all ihrer Autorität.
»Sie sind in der Lage, Beweise beizubringen, Sir?« fragte er geschäftsmäßig.
»Und schon ist es mit meinem Urlaub vorbei«, sagte Murray. Er faßte in die Innentasche seiner Jacke, die sich vor Papieren beulte, und seine Miene wurde wieder ernst.
»Jawohl, das bin ich. Hier haben wir das Heft mit dem originalen Fingerabdruck – mit Datum und einer Unterschrift des jungen John Newnham Farnleigh. Für den Fall, daß Sie die Echtheit des Heftes anzweifeln, habe ich Fotografien anfertigen lassen und auf der Polizeipräfektur in Hamilton hinterlegt. Zwei Briefe, die John Farnleigh mir im Jahr 1911 schrieb – vergleichen Sie die Unterschrift mit jener unter dem Abdruck. Ein aktueller Abdruck, gestern abend abgenommen, und meine Analyse ihrer Übereinstimmungen …«
»Gut. Gut«, sagte Welkyn, »sehr gut.«
Page blickte Burrows an, und er sah, wie bleich Burrows im Gesicht war. Page hatte sich nicht ausgemalt, welche Wirkung das Ende der langen Anspannung auf ihre Nerven haben würde.
Doch nun sah er es, als er in die Runde blickte – zu der auch Molly Farnleigh getreten war.
Sie war unbemerkt ins Zimmer gekommen, und Madeline Dane stand hinter ihr; sie mußte alles gehört haben. Die anderen erhoben sich in einem kuriosen Chor aus kratzenden Stühlen.
»Es heißt, Sie sind ein ehrlicher Mann«, sagte sie zu Murray. »Sie sind also überzeugt?«
Murray verneigte sich. »Madam, es tut mir leid.«
»Er war ein Betrüger?«
»Er war ein Betrüger, der niemanden hinters Licht geführt hätte, der ihn wirklich kannte.«
»Da wäre es wohl an der Zeit«, fügte Welkyn in schönsten Tönen hinzu, »daß Mr. Burrows und ich uns ein wenig unterhalten – ohne Vorurteil natürlich …«