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»Ich?«

»Ja. ›Ich hatte das Gefühl, als sähe mich durch eine der Glasscheiben etwas an, und zwar durch eine der untersten gleich über dem Boden‹. ›Etwas‹, sagen Sie. Nicht ›jemand‹.«

Ein kleiner Schweißtropfen erschien auf Welkyns Stirn, nicht weit von der großen Schläfenader. Es war der einzige Wechsel in seinem Ausdruck, wenn man es denn so nennen konnte; und mit Sicherheit war es das einzige, was sich auf seinem Gesicht bewegte.

»Ich habe die Person draußen nicht erkannt. Hätte ich gewußt, wer es war, hätte ich ›jemand‹ gesagt. Ich wollte nur präzise sein.«

»Es war also ein Mensch? Ein ›Jemand‹?«

Der andere nickte.

»Aber um Sie durch eine der unteren Scheiben anzusehen, müßte dieser Jemand sich sehr tief hinuntergekauert oder sogar am Boden gelegen haben?«

»Nicht unbedingt.«

»Nicht unbedingt? Wie meinen Sie das, Sir?«

»Es bewegte sich zu rasch – und sprunghaft. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

»Können Sie es beschreiben?«

»Nein. Aber ich hatte den Eindruck, daß es tot war.«

Etwas wie Entsetzen hatte sich in Brian Page breitgemacht; er spürte es bis in die Knochen, doch wie oder auch nur wann es gekommen war, hätte er nicht sagen können. Beinahe unmerklich war ihr Gespräch in neue Bereiche vorgedrungen – obwohl er das Gefühl hatte, daß diese Dinge von Anfang an im Hintergrund gelauert hatten und nur auf den Anstoß warteten, der sie zum Leben erweckte. Harold Welkyn machte eine abrupte Bewegung. Er holte ein Taschentuch aus seiner Brusttasche hervor, wischte sich eilig die Handflächen daran ab und steckte es wieder zurück. Als er wieder die Stimme erhob, hatte er fast schon zu seiner üblichen feierlichen und umständlichen Art zurückgefunden.

»Einen Augenblick noch, Inspektor«, sagte er, als Elliot zu einer Erwiderung anhob. »Ich habe versucht, Ihnen so deutlich und wahrheitsgemäß wie möglich zu beschreiben, was ich gesehen und gespürt habe. Sie fragen mich, ob ich an – solche Dinge glaube. Jawohl, das tue ich. Ich will es Ihnen ehrlich verraten: Nicht für tausend Pfund würde ich im Dunkeln hinaus in diesen Garten gehen. Es scheint Sie zu überraschen, daß ein Mann meines Berufes solche Ansichten hegt.«

Elliot überlegte. »Ehrlich gesagt, das tut es irgendwie. Ich weiß auch nicht, warum. Schließlich hat doch auch ein Jurist ein Recht, an das Übernatürliche zu glauben.«

Welkyn schien erheitert.

»Selbst ein Jurist«, stimmte er zu, »und muß deswegen noch lange kein schlechter Anwalt sein.«

Madeline war eingetreten. Nur Page hatte sie bemerkt, denn die anderen waren zu sehr mit Welkyn beschäftigt; sie ging auf Zehenspitzen, und er überlegte, wieviel von dem vorangegangenen Gespräch sie wohl gehört hatte. Er wollte ihr seinen Sessel anbieten, doch sie setzte sich auf die Lehne. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen, nur noch die sanfte Rundung von Kinn und Wange, doch er sah, daß ihre Brust sich unter der weißen Seidenbluse in raschem Rhythmus hob und senkte.

Kennet Murray hatte die Stirn in Falten gelegt. Er war durchaus höflich, aber er wirkte doch wie ein Zollbeamter, der im Begriff ist, ein Gepäckstück zu durchsuchen.

»Ich gehe davon aus, Mr. Welkyn«, sagte er, »daß Sie uns – nun – die Wahrheit erzählen. Es ist außerordentlich, das steht fest. Dieser Garten steht in keinem guten Ruf. Und das seit Jahrhunderten. Die Hoffnung, durch neue Ansichten die bösen Schatten zu verjagen, trieb schon im späten siebzehnten Jahrhundert jene an, die ihn neu anlegten. Wissen Sie noch, junger Johnny, wie Sie, als Sie noch Ihre Hexenstudien trieben, versuchten, dort die Geister erscheinen zu lassen?«

»O ja«, bestätigte Gore. Er war im Begriff, noch etwas hinzuzufügen, überlegte es sich dann jedoch anders.

»Und nun, wo Sie zurückkehren«, fuhr Murray fort, »begrüßt Sie ein beinloses Etwas, das durch den Garten gekrochen kommt, und ein Hausmädchen verliert vor Furcht den Verstand. Hören Sie, junger Johnny: Sie haben doch nicht wieder mit Ihren alten Spielchen angefangen und wollen die Leute erschrecken, oder?«

Zu Pages Überraschung war Gores gebräuntes Gesicht bleich geworden. Offensichtlich war Murray der einzige, der ihn aus der Fassung bringen konnte, so daß die weltmännische Maske von ihm abfiel.

»Nein«, sagte Gore. »Sie wissen, wo ich war. Ich habe Sie in der Bibliothek im Auge behalten. Und noch eines. Wer, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, daß Sie mit mir sprechen können, als hätten Sie noch immer den fünfzehnjährigen Jungen vor sich? Sie haben vor meinem Vater gekuscht, und bei Gott, Sie werden auch mir Respekt zollen, sonst werde ich ihn in Sie hineinprügeln, so wie Sie es mit mir getan haben.«

Der Ausbruch war so unerwartet, daß selbst Dr. Fell brummte. Murray erhob sich.

»Steigt es Ihnen also schon zu Kopfe?« sagte er. »Nun, wie Sie wünschen. Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Sie haben Ihre Beweisstücke. Wenn Sie mich noch brauchen, Inspektor, finden Sie mich im Gasthaus.«

»Das war wirklich hundsgemein von dir, John«, sagte Madeline sanft, »findest du nicht auch? Aber ich bitte um Verzeihung, daß ich unterbreche.«

Zum erstenmal sahen Murray und Gore sie wirklich an, und sie studierte die beiden. Gore lächelte.

»Sie sind Madeline«, sagte er.

»Ich bin Madeline.«

»Die alte Flamme meiner Liebe, längst erkaltet«, sagte Gore. Die Grübchen um seine Augen wurden tiefer. Er faßte Murray am Arm, und in seinen Worten schwang Entschuldigung mit. »Es geht nicht, Schulmeister. Wir können nicht da weitermachen, wo wir vor ewigen Zeiten aufgehört haben; und ich für meinen Teil bin mir jetzt auch sicher, daß ich das gar nicht will. Es kommt mir vor, als hätte ich mich fünfundzwanzig Jahre lang in meinem Bewußtsein fortentwickelt, und Sie seien geblieben, wo Sie waren. Ich habe versucht, mir auszumalen, was ich wohl empfinden werde, wenn ich zum – wie der Dichter sagt – Hort meiner Vorväter zurückkehre. Ich habe mir vorgestellt, wie ein Bild an der Wand mich rühren würde, oder Buchstaben, mit dem Messer in die Lehne einer Bank geritzt. Doch was ich nun finde, sind Mauern, die mir nicht fremder sein könnten, und ich wünschte, ich hätte sie in Frieden gelassen. – Aber eigentlich waren wir ja etwas anderem auf der Spur. Wir sind vom Thema abgekommen. Inspektor Elliot! Haben Sie nicht eben gesagt, ursprünglich seien Sie hergekommen, weil eine Miss Daly ermordet wurde?«

»Ganz recht, Sir.«

Murray hatte sich wieder gesetzt, sichtlich neugierig, und Gore wandte sich an den Inspektor.

»Victoria Daly. Das wird doch nicht das kleine Mädchen sein, das mit seiner Tante – Ernestine Daly hieß sie, glaube ich – in einem Häuschen namens Rose Bower auf der anderen Seite des Hanging Chart wohnte?«

»Von der Tante weiß ich nichts«, erwiderte Elliot, »aber die Adresse stimmt. Sie wurde erdrosselt, am Abend des 31. Juli letzten Jahres.«

Der Herausforderer blickte grimmig. »Dann kann ich zumindest dafür mit einem Alibi aufwarten. Vor einem Jahr war ich glücklich in Amerika. Aber kann vielleicht trotzdem jemand so freundlich sein und ein wenig Licht in dieses Dunkel bringen? Was hat der Mord an Victoria Daly mit unserer Sache zu tun?«

Elliot warf Dr. Fell einen fragenden Blick zu. Der Doktor nickte schläfrig, doch mit Nachdruck; sein gewaltiger Körper schien vollkommen still, und er saß nur da und beobachtete. Elliot griff zu einem Aktenkoffer, den er neben sich stehen hatte, öffnete ihn und holte ein Buch hervor. Es war ein Quartband in dunklem Kalbsleder, der Einband vergleichsweise jungen Datums (etwa ein Jahrhundert alt), auf dem Rücken den nicht gerade einladenden Titel Bemerkenswerte Geschichte. Der Inspektor schob das Buch zu Dr. Fell hinüber, der es aufschlug. Jetzt sah Page, daß es weitaus älter war – die Übersetzung eines französischen Werkes von Sébastien Michaëlis, 1613 in London erschienen. Das Papier war vergilbt und wellig, und gegenüber der Titelseite war ein merkwürdiges Exlibris eingeklebt.