Gore war sichtlich verärgert über diese dick aufgetragene Höflichkeit, doch sein Interesse an anderen Dingen war zu groß.
»Sie haben recht«, bestätigte Gore, »das Geheimnis ging verloren. Und niemand wird es je wiederfinden. Das weiß ich, meine Herren. In jungen Jahren habe ich mir das Hirn zermartert, um hinter das Geheimnis der Goldhexe zu kommen. Ich könnte Ihnen leicht vorführen, daß keine der naheliegenden Erklärungen zutrifft. Wenn wir …« Er machte ein verblüfftes Gesicht. »Bei allen Göttern, warum gehen wir nicht einfach nach oben und sehen sie uns an? Daß ich darauf nicht früher gekommen bin. Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken bin. Die ganze Zeit habe ich überlegt, unter welchem Vorwand ich nach oben kommen oder wie ich mich heimlich hinaufschleichen könnte, wie ich es früher immer getan habe. Aber warum nicht? Warum nicht ganz offen, im schönsten Tageslicht?«
Er schlug mit der Faust auf seine Sessellehne und blinzelte leicht, als sei auch er eben erst ans Licht des Tages gekommen. Inspektor Elliot fuhr mit schneidender Stimme dazwischen.
»Einen Moment, Sir«, sagte Elliot. »Das ist alles hochinteressant, und zu einem anderen Zeitpunkt können wir uns gern damit beschäftigen, aber ich wüßte nicht, was es mit unserem Fall zu tun …«
»Sind Sie sicher?« fragte Dr. Fell.
»Sir?«
»Sind Sie sicher?« wiederholte der Doktor mit großem Nachdruck. »Kann mir jemand beschreiben, wie dieser Automat aussieht?«
»Er ist natürlich inzwischen ziemlich unansehnlich geworden; jedenfalls war er das vor fünfundzwanzig Jahren …«
»Das ist wahr«, stimmte Madeline Dane mit einem Schaudern zu. »Bitte gehen Sie nicht dort hinauf. Ich flehe Sie an!«
»Aber warum denn nicht?« rief Molly.
»Ich weiß nicht. Ich habe Angst.«
Gore weidete sich an ihrem Anblick.
»Ja, vage erinnere ich mich noch, daß es dich seinerzeit beeindruckt hat. Aber Sie wollten wissen, wie die Figur aussieht, Doktor. Sie muß verblüffend lebensecht gewesen sein, als sie neu war. Der Körper ist natürlich aus Eisenteilen zusammengesetzt, aber das ›Fleisch‹ ist Wachs, mit Glasaugen – eines fehlte – und echtem Haar. Im Alter ist sie nicht schöner geworden; sie ist recht dick, und wenn man in der richtigen Stimmung war, konnte sie einem schon ziemlich angsteinflößend vorkommen. Sie trägt oder trug seinerzeit ein Brokatkleid. Hände und Finger sind aus lackiertem Eisen. Damit sie die Zither spielen und ihre Gesten machen konnte, sind die Hände lang und gelenkig und spitz, fast wie … Früher hat sie gelächelt, aber als ich sie zuletzt sah, war sie so verfallen, daß man es nicht mehr erkennen konnte.«
»Und Betty Harbottle«, sagte Dr. Fell unvermittelt, »Betty Harbottle hat, wie einst Eva, eine Schwäche für Äpfel.«
»Wie bitte?«
»Doch, erinnern Sie sich«, drängte Dr. Fell. »Betty Harbottle, das verängstigte Hausmädchen, ißt gerne Äpfel. Das war das erste, was wir erfahren haben, als wir das Personal befragten. Ich würde vermuten, die wackere Haushälterin, Mrs. Apps, wollte uns damit etwas zu verstehen geben. Bei den Mysterien von Eleusis, das ist die Lösung! Und Sie« – das rote Gesicht des Doktors glänzte vor Konzentration, als er zu Gore hinüberblickte –, »Sie haben mir eben gesagt, daß Sie einen Vorwand hatten, wenn Sie hinauf zu den Büchern und der Goldhexe wollten. Sie gingen sich einen Apfel holen, auf dem Dachboden gleich nebenan. Möchte jemand eine Wette mit mir eingehen, wo Betty Harbottle war, als sie sich so gräßlich erschrak, und wo das Heft mit den Fingerabdrücken die Nacht über verborgen war?«
Harold Welkyn erhob sich und machte eine Runde um den Tisch, doch kein anderer rührte sich. Page hatte es später genau vor Augen, den Kreis dieser Gesichter in der düsteren Bibliothek und den Ausdruck, bei dem er eines davon überraschte.
Murray brach das Schweigen und strich sich dabei den Schnurrbart glatt.
»Ah. Ja. Ja, das ist zweifellos interessant. Wenn mir der Aufbau des Hauses noch richtig im Gedächtnis ist, gelangt man zur Dachbodentreppe über den Flur, der auch zum Grünen Zimmer führt. Sie meinen, man hat das Mädchen nach unten getragen und dorthin gebracht?«
Dr. Fell wiegte den Kopf hin und her. »Ich will nur sagen, daß wir entweder unseren Grips zusammennehmen müssen oder getrost zu Bett gehen können. Jede Spur führt zu jener Dachkammer. Das ist der Mittelpunkt des Labyrinths, das Herz all dessen, was geschehen ist, wie das kleine Schälchen Flüssigkeit in Das Haus und das Hirn – was ein passenderer Titel ist, als wir vielleicht denken. Wir sollten uns diese Kammer einmal ansehen.«
Inspektor Elliot sprach nachdenklich.
»Ich glaube auch. Und zwar jetzt. Hätten Sie etwas dagegen, Lady Farnleigh?«
»Nein, ganz und gar nicht; nur daß ich nicht weiß, wo der Schlüssel ist. Aber was soll’s! Brechen Sie das Schloß auf. Mein Mann hat ein neues Vorhängeschloß anbringen lassen, aber wenn Sie Hoffnung haben, daß uns das hilft, dann reißen Sie es – reißen Sie es …« Molly fuhr sich mit der Hand über die Augen und behielt ihre Gefühle für sich, und sogleich hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Soll ich vorangehen?«
»Ich bitte darum.« Elliot zauderte nicht. »Wer von den anderen ist schon einmal in der Kammer gewesen? Nur Miss Dane und Mr. Gore? Würden Sie beide dann bitte mit Dr. Fell und mir mitkommen? Und Mr. Page. Die anderen möchte ich bitten hierzubleiben.«
Elliot und der Doktor gingen als erste hinaus und unterhielten sich leise miteinander. Dann setzte Molly, die dezent weghörte, sich an die Spitze, so daß sie die beiden zwischen sich und dem Herausforderer hatte. Page und Madeline bildeten den Abschluß.
»Wenn du lieber unten bleiben magst …« sagte er zu Madeline.
Sie drückte seinen Arm. »Nein, bitte. Ich will nach oben. Ich will endlich begreifen, was hier vorgeht. Weißt du, ich fürchte, ich habe Molly etwas gestanden, was sie mir sehr übelnimmt – aber ich konnte nicht anders, es war der einzige Ausweg. Brian. Du glaubst doch nicht, daß ich ein Biest bin, oder?«
Er war verblüfft. Zwar lächelte sie halb dabei, als wolle sie sich über den Gedanken gleich wieder lustig machen, doch die schmalen Augen blickten ihn forschend an.
»Liebe Güte, nein! Wie kommst du denn auf so eine Idee?«
»Ach, nur so. Aber in Wirklichkeit hat sie ihn nicht geliebt. Sie macht das alles nur, weil sie meint, es wird von ihr erwartet. Glaube mir, auch wenn es noch so anders aussah: Die beiden haben eigentlich nicht zueinander gepaßt. Er war ein Idealist, sie ist praktisch veranlagt. Warte. Ich weiß, er hat sich als jemand ausgegeben, der er nicht war, aber du kennst die Umstände nicht alle, sonst würdest du verstehen …«
»Dann doch lieber das Praktische«, erwiderte Page grimmig.
»Brian!«
»Das ist mein Ernst. Idealisten wie er können mir gestohlen bleiben. Wenn er wirklich all das getan hat, was sie sagen – und was du ja auch schon zugegeben hast –, dann war unser verstorbener Freund ein hundertkarätiges Schwein, und das weißt du auch. Du warst doch nicht etwa selbst in ihn verliebt?«
»Brian! So etwas darfst du nicht sagen!«
»Ich weiß; aber habe ich recht?«
»Nein, hast du nicht«, sagte Madeline gefaßt und blickte zu Boden. »Und wenn du Augen im Kopf hättest oder einmal deinen Verstand gebrauchen würdest, dann müßtest du so etwas nicht fragen.« Sie zögerte; es war offensichtlich, daß sie nicht weiter darüber sprechen wollte. »Was halten denn Dr. Fell und der Inspektor von – der ganzen Sache?«
Er öffnete den Mund zur Antwort, und erst da ging ihm auf, daß er keine Ahnung hatte.
Nicht die leiseste Ahnung. Inzwischen waren sie über die breite, ausgetretene Eichentreppe ins obere Stockwerk gekommen, hatten die Galerie durchquert und bogen nun in einen Gang nach links. Zur Linken kam das Grüne Zimmer, dessen Tür offenstand und den Blick auf schwere Büromöbel des vergangenen Jahrhunderts und Wände in bedrückenden Farben freigab. Zwei Türen zur Rechten führten in Schlafzimmer. Der Gang endete an einem Fenster mit Blick auf den Garten. Die Treppe zum Dachboden – erinnerte Page sich dunkel – befand sich in der Außenmauer, und man erreichte sie durch eine Tür in der linken Wand.