Elliot war gewissenhaft wie immer. Die Scheibe, mit der die Öffnung im Rücken verdeckt gewesen war, existierte schon lange nicht mehr. Mit Hilfe seiner Taschenlampe studierte er den Mechanismus und fühlte hinein. Einmal schien er zu stutzen, doch er sagte nur:
»Das stimmt schon, Sir. Da würde keiner hineinpassen. Haben die Leute das früher behauptet – daß jemand drinsteckt und die Puppe bewegt?«
»Die einzige Erklärung, die überhaupt jemand anbieten konnte. Nun gut. Damit hätten wir die eigentliche Figur untersucht. Der einzige andere Teil, das sehen Sie selbst, ist das Sofa, auf dem sie sitzt. Sehen Sie her.«
Diesmal mußte er sich mehr mühen. Links vom Fuß des Sofas gab es einen kleinen Knopf; Page sah, daß die ganze Vorderseite sich an einem Scharnier aufklappen ließ wie eine kleine Tür. Unter einigem Zerren gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Das Innere der Truhe, reines Eisen und inzwischen schwer verrostet, war einen knappen Meter breit und noch nicht einmal einen halben hoch.
Gore strahlte vor Vergnügen.
»Sie erinnern sich«, fragte er, »welche Erklärung für Maelzels schachspielenden Automaten gegeben wurde? Die Figur saß auf mehreren großen Kisten, jede mit ihrer eigenen kleinen Tür. Vor jeder Vorführung öffnete der Operateur diese Türen, damit das Publikum sich überzeugen konnte, daß alles mit rechten Dingen zuging. Doch manche mutmaßten, im Inneren verberge sich ein kleines Kind, das sich bald in die eine, bald in die andere Abteilung drücke und dessen Bewegungen so mit dem Öffnen und Schließen der Türen abgestimmt seien, daß die Zuschauer glaubten, sie hätten sich vergewissert, daß das gesamte Innere leer sei.
Etwas in dieser Art vermutete man auch bei unserer Hexe hier. Aber es gibt Berichte von Zeitgenossen, die schreiben, so etwas sei unmöglich gewesen. Ich brauche nicht zu sagen, daß das Kind in diesem Falle zum einen schon wirklich sehr klein gewesen sein müßte und daß zum zweiten kein Schausteller mit einem solchen Kind durch ganz Europa gereist sein könnte, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre.
Bei der Hexe hier gibt es nur einen einzigen leeren Raum und eine einzige Tür. Die Zuschauer wurden aufgefordert nachzufühlen, daß nichts darin verborgen war, und die meisten taten es auch. Die Figur stand für sich, gut über dem Boden und auf einem Teppich, den der Hausherr zur Verfügung stellte. Und auch wenn es nichts gab, wodurch es sich erklären ließ, erwachte unsere muntere Lady auf Kommando zum Leben, ließ sich eine Cittern geben – spielte jede Melodie, die ein Zuschauer sich wünschte – reichte die Cittern zurück – unterhielt sich mit dem Publikum per Zeichensprache und machte allerlei Scherze nach dem damaligen Geschmack. Wundert es Sie da, daß mein ehrwürdiger Vorfahr begeistert war? Was ich nur immer gern gewußt hätte, das ist, warum er es sich so gründlich anders überlegte, als er das Geheimnis erst einmal erfahren hatte.«
Gore wechselte den Tonfall.
»Und jetzt«, sagte er nur noch, »verraten Sie mir, wie sie funktioniert.«
»Sie – Äffchen Sie!« rief Molly Farnleigh. Sie sagte es im schönsten Ton, doch die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. »Können Sie denn immer nur den Clown spielen, ganz egal, was geschieht? Sind Sie denn immer noch nicht zufrieden? Möchten Sie eine Modelleisenbahn oder Spielzeugsoldaten? Liebe Güte, Brian, helfen Sie mir; ich kann nicht mehr. Und Sie lassen sich anstecken – und Sie auch, ein Polizeibeamter –, spielen mit einer Puppe, machen ein Aufhebens wie eine Horde Kinder, dabei – begreifen Sie denn nicht, daß gestern abend ein Mensch ermordet wurde?«
»Gut«, sagte Gore, »Themenwechsel. Dann fragen wir doch etwas anderes: Verraten Sie mir, wie das funktioniert hat.«
»Sie werden natürlich sagen, es war Selbstmord, das versteht sich.«
»Madam«, sagte Gore mit einer verzweifelten Geste, »ich habe keine Chance. Ich kann sagen, was ich will, und es wird immer einer da sein, der mir deswegen an die Gurgel geht. Wenn ich sage, es war Selbstmord, stürzen A, B und C sich auf mich; wenn ich sage, es war Mord, habe ich D, E und F zum Feind. Wenn ich bisher noch nicht vorgeschlagen habe, daß es ein Unfall war, dann nur deswegen, weil ich mir nicht den Zorn von G, H und I zuziehen wollte.«
»Sehr geistreich, keine Frage. Was sagen Sie, Mr. Elliot?«
Elliot antwortete mit großem Ernst.
»Lady Farnleigh, ich versuche nur, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, im schwierigsten Fall, der mir je untergekommen ist, und ich kann nicht sagen, daß Sie es mir leichtmachen, keiner von Ihnen. Das wissen Sie wohl auch. Wenn Sie auch nur einen Augenblick lang überlegen, werden Sie darauf kommen, daß diese Maschine sehr wohl etwas mit unserem Fall zu tun hat. Ich erwarte ja nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir nicht mit solcher Leichtfertigkeit das Leben schwermachen. Ich habe nämlich auch noch etwas zu dieser Maschine zu sagen.«
Er legte der Figur die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß nicht, ob das Uhrwerk in ihrem Inneren Attrappe ist, wie Mr. Gore vermutet. Ich würde sie gern einmal in meine Werkstatt holen und der Sache auf den Grund gehen. Ich weiß nicht, ob man erwarten kann, daß so ein Mechanismus nach zweihundert Jahren noch funktioniert, aber wenn eine alte Uhr nach so langer Zeit noch läuft, warum nicht auch ein Automat? Aber eines kann ich Ihnen verraten, eines habe ich herausgefunden, als ich durch das Fenster im Rücken hineinsah. Dieser Mechanismus ist vor kurzem geölt worden.«
Molly runzelte die Stirn.
»Und?«
»Es würde mich interessieren, Dr. Fell, was Sie …« Elliot wandte sich um. »He! Wo sind Sie, Sir?«
Die Vorstellung, daß eine so beträchtliche Masse wie die des Doktors plötzlich verschwinden könnte, bestätigte Page nur sein Gefühl, daß bei dieser Sache wirklich alles geschehen konnte. Er kannte Dr. Fells Trick noch nicht, sich unbemerkt zu entfernen und dann an einer ganz unerwarteten Stelle wieder aufzutauchen, meist mit etwas beschäftigt, dessen Sinn keiner verstand. Diesmal antwortete Elliot ein Lichtschein aus dem Bücherkabinett. Dr. Fell hatte eine Reihe von Streichhölzern angezündet und war ganz in die Durchsicht der unteren Regalbretter versunken.
»Hm? Ich bitte um Verzeihung.«
»Haben Sie uns denn gar nicht zugehört?«
»Ach, das. Ahemm – doch. Sie werden nicht erwarten, daß ich auf Anhieb ein Rätsel löse, an dem schon so viele Generationen der Familie gescheitert sind. Mich würde viel mehr interessieren, wie der Schausteller seinerzeit gekleidet war.«
»Gekleidet?«
»Ja. In ein traditionelles Magierkostüm, würde ich vermuten, das ich persönlich schon immer eher unattraktiv fand, wenn auch suggestiv. Aber ich habe ein wenig in diesem Schrank gestochert und weiß noch nicht recht, ob ich etwas gefunden habe …«
»Bei den Büchern?«
»Die Bücher sind die übliche orthodoxe Sammlung des Unorthodoxen, obwohl einige Berichte von Hexenprozessen dabei sind, die mir neu sind. Was ich anscheinend gefunden habe, ist ein Bericht über die Vorführung dieses Automaten, den ich mir hoffentlich ausleihen darf? Ich danke Ihnen. Aber vor allem haben wir dies hier.«
Unter den amüsierten Blicken Gores, dessen Augen boshaft funkelten, kam er aus dem Kabinett gehinkt und brachte eine halb zergangene Holzschachtel mit. Page hatte das Gefühl, daß sich plötzlich auf dem Dachboden die Neugierigen um sie drängten.
Aber es waren nur Kennet Murray und Nathaniel Burrows, die offenbar unten unruhig geworden waren und ihnen nun doch nach oben gefolgt waren. Burrows’ Brillengesicht und Murrays gelassene Züge erschienen am Treppenabsatz, als kämen sie aus einer Falltür herauf. Zunächst blieben sie dort stehen. Dr. Fell schüttelte die hölzerne Schachtel. Er stellte sie, so gut es ging, auf dem Rand des Sofas neben der Figur ab.