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Madeline atmete tief durch.

»Wenn Sie mir die Möglichkeit geben, es zu erklären, werden Sie auch verstehen, wie wichtig es ist, Mr. Whitehouse. Was mir besonders schwerfällt, das ist, hier in aller Öffentlichkeit zu erklären, wie es dazu kam, daß er es gerade mir anvertraute. Aber mit irgend jemandem mußte er ja sprechen. Er hatte Lady Farnleigh zu gern, um damit zu ihr zu kommen – das war ja gerade eine der Schwierigkeiten dabei –, und manchmal nagten die Zweifel so sehr an ihm, daß man es ihm sogar ansah; Sie werden sich erinnern, wie reizbar er manchmal war. Wahrscheinlich bin ich jemand, dem man leicht etwas anvertraut« – sie legte die Stirn halb ärgerlich, halb amüsiert in Falten –, »und so kam es eben.«

»Und, Miss Dane, und? Was kam?«

»Sie haben sich alles über die Begegnung von vorgestern abend erzählen lassen; das Treffen, bei dem es um den rechtmäßigen Erben und die Fingerabdrücke ging«, nahm Madeline den Faden auf, mit einer Heftigkeit des Tons, die wohl unbewußt war. »Ich war selbst nicht dabei, aber ein Freund, der dort war, hat mir in allen Einzelheiten davon berichtet. Er sagt, was ihn am meisten beeindruckt habe, sei die absolute Gewißheit beider Bewerber gewesen, bis hin zu dem Punkt, an dem die Fingerabdrücke genommen wurden, und auch danach noch. Er sagt, das einzige Mal, daß der arme John – bitte um Verzeihung: daß Sir John – lächelte oder erleichtert wirkte, sei gewesen, als der Herausforderer von den gräßlichen Vorgängen auf der Titanic sprach, von dem Seemannshammer, mit dem er niedergeschlagen worden sei.«

»Und weiter?«

»Vor Monaten hat Sir John mir folgendes anvertraut. Nach dem Untergang der Titanic wachte er in einem New Yorker Hospital wieder auf. Aber der Junge wußte nicht, daß er in New York war oder daß er auf der Titanic gewesen war. Er wußte nicht, wo er war, wie er dorthin gekommen war, ja nicht einmal, wer er war. Beim Untergang des Schiffes hatte er, ob Unfall oder Absicht, einige Schläge auf den Kopf erhalten, und von den Schlägen hatte er das Gedächtnis verloren – Amnesie, wie die Ärzte sagten. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Voll und ganz, Miss Dane. Fahren Sie fort.«

»Man sagte ihm, seine Kleider und Papiere hätten ihn als John Farnleigh identifiziert. Ein Mann stand am Krankenbett, der ihm erklärte, er sei der Cousin seiner Mutter – ach, das ist alles umständlich, aber ich glaube, Sie können mir folgen –, und der Mann sagte, er solle schlafen und wieder gesund werden.

Aber Sie wissen ja, wie Jungs in solchem Alter sind. Er fürchtete sich und machte sich die schrecklichsten Sorgen. Er wußte nichts über sich. Und das schlimmste war, daß er, wie solche Jungs es eben tun, niemandem davon erzählte, denn er hatte Angst, daß er verrückt sei oder sonst etwas mit ihm nicht stimmte; er hatte Angst, daß sie ihn ins Gefängnis stecken würden.

So fühlte er sich damals. Er hatte ja keinen Grund zu glauben, daß er nicht John Farnleigh war. Er hatte keinen Grund zu glauben, daß sie ihm nicht bei allem, was sie ihm über ihn erzählten, die Wahrheit sagten. Ein paar wirre Erinnerungen waren gekommen, an das Durcheinander, die Rufe, Wind und Kälte; aber mehr wußte er nicht. Und deshalb sagte er darüber zu keinem Menschen ein Wort. Gegenüber seinem Vetter – einem Mr. Renwick aus Colorado – tat er, als erinnere er sich an alles. Mr. Renwick kam nie dahinter, daß er ihm etwas vormachte.

Er bewahrte sein kleines Geheimnis jahrelang. Immer wieder las er in seinem Tagebuch, weil er hoffte, das werde die Erinnerung zurückbringen. Manchmal, erzählte er mir, habe er stundenlang dagesessen, die Hände an den Kopf gepreßt, und sich konzentriert. Manchmal hatte er das Gefühl, die vage Erinnerung an ein Gesicht oder ein Ereignis komme zurück, wie etwas, das man unter Wasser sieht. Aber schon bald schien es ihm dann doch wieder, als ob er sich etwas vormache. Das einzige, was dabei je an die Oberfläche kam, und auch das eher ein Wort als ein Bild, hatte etwas mit einer Tür zu tun: mit einer krummen Türangel.«

Unter dem Wellblechdach saßen die Zuschauer wie Wachsfiguren. Kein Blatt Papier raschelte. Niemand flüsterte. Page spürte, wie sein Kragen feucht wurde, und sein Herz tickte wie eine Uhr. Diffuses Sonnenlicht kam durch das Fenster, und Madeline hatte die Augen ein wenig zusammengekniffen.

»Einer Türangel, Miss Dane?«

»Ja. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Und er selbst wußte es auch nicht.«

»Weiter, bitte.«

»In den ersten Jahren in Colorado lebte er in der ständigen Furcht, es könne sich herausstellen, daß mit seiner Geschichte etwas nicht stimmte, und man könne ihn dafür ins Gefängnis stecken. Die Handschrift hätte ein Indiz sein können, aber bei dem Schiffsunglück waren zwei seiner Finger beinahe zerquetscht worden, und er konnte keinen Stift mehr halten. Er hatte Angst, nach Hause zu schreiben – deswegen hat er es nie getan. Er hat sich sogar gefürchtet, zu einem Arzt zu gehen und zu fragen, ob er womöglich verrückt sei, denn er fürchtete, der Arzt könne ihn verraten.

Diese Ängste haben natürlich im Laufe der Zeit nachgelassen. Er überzeugte sich davon, daß er einfach Pech gehabt hatte, daß solche Dinge schon einmal vorkommen können und so weiter. Der Weltkrieg und all das folgten. Er konsultierte einen Spezialisten, der ihm nach langen psychologischen Tests versicherte, daß er wirklich John Farnleigh sei und sich darum keine Sorgen mehr zu machen brauche. Aber den Schrecken der Jugendjahre überwand er nie wirklich, und selbst als er glaubte, nun sei es überstanden, träumte er noch davon.

Dann begann alles wieder neu, als der arme Dudley starb und er Titel und Besitz erbte. Er mußte nach England kommen. Er hatte – wie soll ich das sagen? – ein wissenschaftliches Interesse daran. Er sagte sich, wenn er dorthin zurückkam, mußte er sich doch erinnern. Aber er erinnerte sich nicht. Sie alle wissen, wie er umherwanderte wie ein Geist, ein armer alter Geist, der nicht einmal mehr wußte, ob er nun überhaupt ein Gespenst war oder nicht. Sie wissen, wie reizbar er war. Er war gerne hier. Er liebte jeden Flecken und jeden Winkel dieser Gegend. Verstehen Sie mich nicht falsch – er hat nicht wirklich daran gezweifelt, daß er John Farnleigh war. Aber er wollte GEWISSHEIT.«

Madeline biß sich auf die Lippe.

Mit leuchtenden Augen ließ sie ihren nun recht harten Blick über die Zuschauer schweifen.

»Ich habe mit ihm geredet und immer wieder versucht, ihn zu beschwichtigen. Er solle nicht so verzweifelt darüber nachdenken, sagte ich, dann werde ihm vielleicht eher etwas einfallen. Ich habe es so eingerichtet, daß ich ihn an etwas erinnerte, und machte ihm weis, er selbst sei es, dem es eingefallen sei. Etwa ein Grammophon, das in der Ferne eine Melodie spielte, und ihm fiel wieder ein, daß wir als Kinder danach getanzt hatten. Manchmal waren es Kleinigkeiten im Haus. In der Bibliothek gibt es eine Art Schrank – ein Bücherregal, in die Fensterwand eingebaut –, aber in Wirklichkeit ist es eine Tür, durch die man hinaus in den Garten kann. Auch heute noch, wenn man eine Feder an der richtigen Stelle drückt. Ich habe ihn so lange dirigiert, bis er sie gefunden hatte. Nächtelang, sagte er mir, habe er danach gut schlafen können.

Doch immer weiter quälte ihn die Ungewißheit. Sollte er erfahren, daß er nicht John Farnleigh sei, werde es ihm nichts ausmachen, sagte er – wenn er es nur endlich mit Sicherheit wisse. Schließlich sei er kein grüner Junge mehr – er werde es schon mit Fassung aufnehmen; und nichts auf der Welt wünsche er sich mehr, als endlich die Wahrheit zu wissen.

Er fuhr nach London und konsultierte noch zwei weitere Ärzte, das weiß ich. Wie verzweifelt er war, das können Sie daran sehen, daß er sogar einen Mann aufsuchte, dessen Name seinerzeit in aller Munde war und von dem es hieß, er habe übersinnliche Kräfte – einen gewissen Ahriman, einen gräßlichen kleinen Kerl in der Half-Moon Street. Er ist mit einigen von uns dorthin gefahren, und wir taten so, als ließen wir uns die Zukunft weissagen und machten uns darüber lustig. Aber er erzählte diesem Wahrsager seine ganze Geschichte.