Nun saß sie am Kopfende des Tisches an der offenen Terrassentür, umgeben von poliertem Holz und Silber in einem Zwielicht, das noch nicht ganz dunkel genug war, um die Kerzen auf dem Eßtisch anzuzünden. Sie trug Weiß. Die schweren, niedrigen Eichenbalken des Zimmers, das Zinngeschirr und die geschäftigen Uhren, das alles war nur der Hintergrund für sie. Als sie mit ihrer Mahlzeit fertig waren, entzündete Dr. Fell eine Zigarre von gargantuesken Ausmaßen; Page hatte Madeline eben Feuer für ihre Zigarette gegeben, und im Licht des Streichholzes konnte man sie auf Elliots Frage lachen sehen.
»Das Fußballtoto?« fragte sie und errötete ein wenig. »Ehrlich gesagt, ich bin überhaupt nicht darauf gekommen. Das war Nat Burrows. Er hat es aufgeschrieben, und ich mußte es auswendig lernen wie ein Gedicht. Nicht daß es nicht die Wahrheit wäre, jedes Wort davon. Ich habe es alles tief empfunden, in meinem tiefsten Innersten. Ich fand es ausgesprochen mutig von mir, daß ich es vor all den Leuten fertiggebracht habe, das alles zu sagen, und jeden Augenblick mußte ich damit rechnen, daß der arme Mr. Whitehouse mich unterbrechen müßte; aber Nat bestand darauf – es sei die einzige Möglichkeit. Als es vorüber war, bin ich oben im Bull and Butcher in ein Zimmer gegangen und habe geheult, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Meinen Sie, es war unanständig von mir?«
Alle starrten sie an.
»Nein«, antwortete Dr. Fell mit fester Stimme. »Es war eine bemerkenswerte Leistung. Aber lieber Himmel, Burrows hat Ihnen das eingepaukt? Alle Achtung!«
»Er war gestern die halbe Nacht hier, und wir haben geübt.«
»Burrows? Wann war er hier?« fragte Page überrascht. »Ich habe dich doch nach Hause gebracht.«
»Er kam, nachdem du wieder gegangen warst. Er hatte von Molly erfahren, was ich ihr gebeichtet hatte, und war fürchterlich aufgeregt.«
»Ich glaube, meine Herren«, brummte Dr. Fell und paffte nachdenklich seine große Zigarre, »wir sollten unseren Freund Burrows nicht unterschätzen. Page hat uns ja schon vor langem versichert, daß er ein verdammt cleverer Bursche ist. Am Anfang schien es, als könne Welkyn ihn bei diesem Zirkus in die Tasche stecken, doch in Wirklichkeit hatte er die ganze Untersuchung, psychologisch gesehen, vom ersten Augenblick an im Griff. Nur zu verständlich, daß er kämpft. Für die Kanzlei Burrows & Burrows macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sie den Farnleigh-Besitz weiter verwaltet oder nicht. Außerdem ist er keiner, der klein beigibt. Wenn – falls – der Fall Farnleigh kontra Gore vor Gericht geht, werden die Funken fliegen.«
Elliot war mit etwas anderem beschäftigt.
»Hören Sie, Miss Dane«, sagte er steif. »Ich will nicht bestreiten, daß Sie uns einen großen Gefallen getan haben. Das war ein Triumph, wenn auch nur ein äußerlicher, einer für die Zeitungen. Jetzt können die Ermittlungen nicht eingestellt werden, selbst wenn der Assistant Commissioner sich die Haare rauft und flucht, daß die Geschworenen ein Haufen schwachköpfiger Bauerntölpel waren, die sich von einer gutaussehenden – ähm – Frau haben verzaubern lassen. Aber ich wüßte doch gern, warum Sie mit dem, was Sie an Information hatten, nicht zuerst zu mir gekommen sind. Ich bin schließlich kein Ungeheuer. Ich – äh – eigentlich bin ich gar kein so schlechter Kerl, wenn ich das sagen darf. Warum haben Sie es mir nicht anvertraut?«
Es war seltsam und schon beinahe komisch, dachte Page, wie persönlich er es offensichtlich nahm.
»Das wollte ich ja«, beteuerte Madeline. »Ehrlich, glauben Sie mir. Aber Molly mußte es als erste erfahren. Und dann ließ Nat Burrows mich Stein und Bein schwören, daß ich vor der amtlichen Untersuchung der Polizei kein Wort darüber sagen würde. Er traut der Polizei nicht, sagt er. Außerdem hat er eine Theorie, die er beweisen will …« Sie stockte, biß sich auf die Lippe und machte eine entschuldigende Geste mit der Zigarette. »Sie wissen doch, wie manche Leute sind.«
»Was haben wir denn nun überhaupt erreicht?« fragte Page. »Sind wir nach dem heutigen Vormittag nur wieder am Anfang unseres Kreises angekommen und fragen von neuem, welcher von beiden der echte Erbe ist? Wenn Murray beschwört, daß es Gore ist, und niemand etwas findet, die Beweiskraft seiner Fingerabdrücke zu widerlegen, scheint doch die Sache damit erledigt. Jedenfalls hätte ich das gedacht. Auch wenn mir heute vormittag ein- oder zweimal Zweifel kamen. Ein paar dezente Hinweise – und zwar von dir, Madeline – schienen ja genau auf unseren Freund Welkyn gemünzt.«
»Wirklich, Brian! Ich habe nur gesagt, was Nat mir eingetrichtert hat. Worauf willst du hinaus?«
»Nun, ich überlege, ob nicht Welkyn hinter dieser ganzen Affäre der angeblich unrechtmäßigen Erbschaft steckt. Welkyn, der Anwalt der Geisterseher, Advokat der Spiritisten. Welkyn, der eine Vorliebe für reichlich zwielichtige Freunde hat und auf Gore gekommen sein mag, wie er auf Ahriman und Madame Duquesne und all die anderen gekommen ist. (Daß Gore ein Taschenspieler ist, war mein erster Eindruck, als ich ihn sah.) Welkyn, der behauptet, zum Zeitpunkt des Mordes habe er ein Gespenst im Garten gesehen. Welkyn, der zum Zeitpunkt des Mordes gerade einmal fünf Meter vom Opfer fort war, mit nichts als einer Glasscheibe dazwischen. Welkyn …«
»Aber Brian, du hältst doch nicht ernsthaft Mr. Welkyn für den Mörder?«
»Warum denn nicht? Dr. Fell hat gesagt …«
»Ich habe gesagt«, schaltete sich der Doktor ein und betrachtete mit gerunzelter Stirn seine Zigarre, »daß er die interessanteste Person dieser Versammlung ist.«
»Das läuft doch in der Regel auf dasselbe hinaus«, beharrte Page finster. »Madeline, was meinst du denn nun wirklich – welcher ist der echte Erbe? Gestern hast du mir gesagt, für dich sei der tote Farnleigh der Hochstapler gewesen. Glaubst du das wirklich?«
»Ja, das glaube ich. Aber ich kann nicht verstehen, daß jemand kein Mitleid mit ihm hat. Begreifst du das denn nicht – er hat uns ja nicht mit Absicht etwas vorgemacht. Er wollte nur einfach wissen, wer er war. Und dein Mr. Welkyn kann unmöglich der Mörder gewesen sein. Er war der einzige von uns, der nicht auf dem Dachboden war, als – ach, das ist schrecklich, nach dem Essen und an einem so schönen Abend wieder davon anzufangen, aber er ist der einzige, der nicht oben war, als die Maschine die Treppe hinunterfiel.«
»Sinister«, sagte der Doktor, »höchst sinister.«
»Sie müssen ein ungeheuer tapferer Mann sein«, sagte Madeline mit der größten Ernsthaftigkeit, »daß Sie darüber lachen, wie dieses eiserne Götzenbild auf Sie zugepurzelt kam …«
»Meine liebe junge Dame, ich bin nicht tapfer. Die See war rauh, und der Boden schwankte unter meinen Füßen. Später stieß ich wie einst Petrus Flüche und Verwünschungen aus. Dann machte ich meine Witze. Ahemm. Zum Glück lenkte mich der Gedanke an das Mädchen unten in dem Zimmer ab, das nicht so gut gepolstert war wie ich …« Seine Faust schwebte über der Tischplatte, gewaltig im Dämmerlicht. Die anderen spürten eine gefährliche Macht, die da hinter den Scherzen und der Zerstreutheit lauerte, eine Macht, die sie alle überwältigen konnte. Aber er schlug nicht auf den Tisch. Er blickte nur hinaus in den düsterer werdenden Garten und rauchte friedlich seine Zigarre.
»Dann sagen Sie es mir, Sir«, beharrte Page. »Wo stehen wir denn nun? Finden Sie nicht, daß Sie uns mittlerweile vertrauen können?«
Seine Antwort bekam er von Elliot. Elliot nahm sich eine Zigarette aus der Dose auf dem Tisch und zündete sie mit einer bedächtigen Bewegung an. Im Licht des Streichholzes sah man, daß sein Gesicht nun wieder streng und energisch war; Page hatte den Eindruck, daß seine Miene ihm etwas zu verstehen geben wollte, aber er wußte sie nicht zu deuten.
»Wir müssen bald los«, sagte der Inspektor. »Burton fährt uns nach Paddock Wood, und von da nehmen Dr. Fell und ich den Zehnuhrzug nach London. Wir haben ein paar Worte mit Mr. Bellchester vom Yard zu reden. Dr. Fell hat eine Idee.«