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Madeline sprang vom Stuhl auf. Er blickte sie nicht an, doch er spürte, wie ihre großen blauen Augen auf ihn gerichtet waren.

»Wieso das, Brian? Das verstehe ich nicht.«

»Weil sie sich mit der Salbe eingerieben hatte. Hast du eine Vorstellung, was ein solches Mittel bewirken würde?«

»Ungefähr. Aber sage es mir.«

»Aus den letzten sechs Jahrhunderten«, fuhr er fort, »haben wir eine stattliche Zahl von Zeugnissen derer, die behaupten, sie hätten an Hexensabbaten teilgenommen und Satan sei ihnen erschienen. Was einen, wenn man diese Zeugnisse liest, immer wieder wundert, ist die absolute Sicherheit, die Sorgfalt im Detail, mit der Leute Dinge beschrieben haben, die unmöglich wahr sein können. Wir können, historisch gesehen, nicht leugnen, daß es vom Mittelalter bis zum siebzehnten Jahrhundert Hexenkulte tatsächlich gegeben hat und daß sie beträchtliche Macht hatten. Sie waren nicht minder gut organisiert und geführt als die christliche Kirche. Aber was soll man von den Reisen durch die Luft halten, den Wundern und Gespenstern, den Geistern und Dämonen, den Inkuben und Sukkuben? Man kann sie nicht als Tatsache ansehen (jedenfalls kann ich mit meinem praktischen Verstand das nicht), und doch werden sie von einer großen Zahl von Leuten als solche präsentiert, Leuten, die nicht schwachsinnig und nicht hysterisch waren und auch nicht unter Folter aussagten. – Nun, was würde jemanden dazu bringen, daß er das alles für bare Münze nimmt?«

»Eisenhut und Fingerkraut«, antwortete Madeline mit ruhiger Stimme. »Oder Tollkirsche.«

Sie sahen sich an.

»Ich glaube, das ist die Erklärung«, bestätigte er, noch immer den Blick auf das Fenster geheftet. »Ein Gutteil der Wissenschaft ist der Ansicht – und einer sehr vernünftigen Ansicht, finde ich –, daß viele dieser ›Hexen‹ nie ihr Haus, ja nicht einmal ihr Zimmer verlassen haben. Sie glaubten, sie seien beim Sabbat auf dem Hexenhügel gewesen. Sie glaubten, durch Zauberkraft seien sie zum entweihten Altar geflogen, zu ihrem dämonischen Geliebten. Sie glaubten es, weil die beiden Hauptzutaten zur Hexensalbe Eisenhut und Tollkirsche waren. Weißt du, wie solche Gifte wirken, wenn man sie äußerlich auf die Haut reibt?«

»Mein Vater hatte ein Buch zur Gerichtsmedizin hier«, sagte Madeline. »Ich könnte nachsehen, ob …«

»Tollkirsche oder Belladonna, durch die Poren der Haut aufgenommen – und die Haut an den Fingernägeln –, versetzt den Körper binnen kurzem in Erregung; dann folgen wilde Halluzinationen und Delirium, schließlich verliert man das Bewußtsein. Dazu kommt die Wirkung des Eisenhuts: geistige Verwirrung, Benommenheit, Bewegungsstörungen, unregelmäßiger Herzrhythmus, am Ende ebenfalls Bewußtlosigkeit. Ein Verstand, der voll ist von den Beschreibungen der Hexenfeiern (Victoria Daly hatte ein Buch mit solchen Beschreibungen auf dem Nachttisch), sorgte für den Rest. Und das ist die Erklärung. Ich denke, wir wissen, wie sie am Lammas Eve ›zum Hexensabbat flog‹.«

Madeline ließ ihre Finger die Tischkante entlangspazieren. Sie musterte sie. Dann nickte sie.

»J-ja. Aber selbst wenn das so war, Brian – wieso beweist das, daß in der Nacht, in der sie umkam, noch jemand anderes im Haus war? Ich meine, noch jemand außer Victoria und dem Landstreicher, der sie umbrachte?«

»Weißt du noch, was sie anhatte, als man den Leichnam fand?«

»Sicher. Nachthemd, Morgenrock und Pantoffeln.«

»Genau – das hatte die Tote an. Darum geht es. Ein frisch gewaschenes Nachthemd – von dem schönen Morgenmantel ganz zu schweigen – über der fettigen, rußigen Salbe? Sehr unbequem, und hinterher schwer zu waschen. Wollte sie im Morgenmantel zum Hexenhügel fahren? Zum Sabbat trugen die Hexen höchstens ein paar Lumpen, die sie nicht in ihren Bewegungen behinderten und die Salbe nicht verwischten – wenn sie überhaupt etwas anhatten.

Kannst du dir nicht ausmalen, was geschah? Die Frau lag im Delirium, fast schon bewußtlos, in dem dunklen Haus. Ein armer Herumtreiber sieht ein Haus ohne Licht und ein offenes Fenster, denkt, da ist leicht etwas zu holen. Statt dessen trifft er auf eine Frau, die von Sinnen ist, die im Delirium schreit – und das muß ja ein ziemliches Schreckgespenst gewesen sein, das da aus dem Bett aufsprang und ihm entgegenkam. Er verlor den Kopf und brachte sie um.

Kein Mensch, der im Rausch dieser Salbe war, hätte Nachthemd, Morgenmantel und Pantoffeln angezogen. Der Mörder hätte sie ihr nicht übergestreift. Er wurde schon entdeckt, bevor er noch seine Beute zusammenhatte, und die Verfolgungsjagd begann.

Aber da war noch jemand in dem dunklen Haus. Da lag Victoria Daly, tot, den Körper mit der Salbe eingerieben, in einem seltsamen Kostüm, das für einen gewaltigen Skandal sorgen würde, wenn man sie so fand. Womöglich kam sogar ein Schlaumeier, der erriet, was vorgegangen war. Um das zu verhindern, schlich sich diese dritte Person ins Schlafzimmer, bevor sonst jemand die Tote gesehen hatte. (Erinnerst du dich? Die beiden Männer, die die Schreie hörten, sahen, wie der Mörder aus dem Fenster kletterte, und setzten ihm nach; erst eine Weile später kehrten sie zurück.) Die dritte Person streifte ab, was Victoria an ›Hexenkleidern‹ getragen haben mag, und steckte den Leichnam in ein braves Nachthemd, in Morgenrock und Pantoffeln. So war es. Das ist die Erklärung. So ist es zugegangen.«

Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Die Bilder vor seinem inneren Auge, die so lange verborgen gewesen waren, kamen nun mit einer solchen Klarheit hervor, daß er nicht mehr daran zweifelte, daß seine Deutung richtig war. Er nickte Madeline zu.

»Du weißt, daß das stimmt, nicht wahr?«

»Brian! Woher sollte ich so etwas wissen?«

»Nein, nein, so meine ich das nicht. Aber du bist genauso sicher wie ich, oder? Das ist die Deutung, von der Elliot von Anfang an ausgegangen ist.«

Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie antwortete.

»Ja«, gestand sie. »Etwas in dieser Art hatte ich mir auch zusammengereimt. Jedenfalls bis heute abend, wo Dr. Fells Andeutungen ja überhaupt nicht dazu paßten – was ich ihm auch gesagt habe. Nicht einmal zu dem, was die beiden denken, paßten sie wirklich. Weißt du noch? Gestern meinte er noch, hier in der Gegend gebe es keinen Hexenkult.«

»Und da hat er recht.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

»Ich habe nur von einer einzelnen Person gesprochen. Einer, und nur der einen. Genau wie Dr. Fell es uns gestern gesagt hat. ›Alles, von der seelischen Grausamkeit bis zum Mord, ist das Werk eines einzigen Menschen‹. Und: ›Lassen Sie sich das gesagt sein – selbst der Satanismus ist ein ehrliches und geradliniges Geschäft im Vergleich zu dem Vergnügen, das sich hier jemand für seinen Verstand ersonnen hat‹. Das müssen wir jetzt nur noch in den richtigen Zusammenhang bringen, wir müssen das Muster finden. Seelische Grausamkeit, intellektuelles Vergnügen, der Tod von Victoria Daly, vage und unbestimmte Gerüchte, daß – was hat Elliot mir erzählt? – im hiesigen Landadel Hexen ihr Unwesen trieben.

Man fragt sich, wie der Betreffende dazu kam. Schiere Langeweile? Schlicht und einfach Lebensüberdruß, weil er nicht in der Lage war, sich über die alltäglichen Dinge des Lebens zu freuen? Eine Neigung, die er oder sie schon seit Kindertagen hatte, die nun unter der Oberfläche verborgen war, aber doch weiterwuchs und sich aus geheimen Quellen nährte?«

»Wie der Betreffende wozu kam?« rief Madeline. »Das ist doch die Frage, die wir immer noch nicht geklärt haben. Was tat er denn wirklich?«

Hinter ihrem Rücken pochte eine Hand an die Glasscheibe, mit einem häßlichen kratzenden Geräusch wie von Krallen.

Madeline stieß einen Schrei aus. Das Klopfen oder der Stoß hatte die Terrassentür, die noch einen Spaltweit offengestanden hatte, fast geschlossen, und das Glas rasselte noch ein wenig im Rahmen. Page zögerte. Das Radio dudelte weiter seine Tanzmusik. Er ging zur Tür und drückte sie auf.