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Kapitel 18

Dr. Fell und Inspektor Elliot kamen nicht mehr zum Bahnhof. Sie verpaßten ihren Zug, denn als sie auf Farnleigh Close anlangten, erfuhren sie, daß Betty Harbottle wieder bei Bewußtsein war und bereit war, mit ihnen zu sprechen.

Auf dem Weg durch den Obstgarten und über den bewaldeten Hügel hatten sie nur ein paar wenige Worte gewechselt. Und hätte ihnen jemand zugehört, hätte er wohl kaum verstanden, wovon sie sprachen. Doch was sie sagten, war von tödlicher Wichtigkeit für die Dinge, die sich nur ein oder zwei Stunden später ereignen sollten, als einer der gerissensten Mörder, die Dr. Fell je begegnet waren, (vielleicht vor der Zeit) mit einer List entlarvt wurde.

Im Wald war es finster und stickig. Sterne blinkten durch das dichte Geflecht der Blätter, und im Strahl, den Elliots Taschenlampe auf den blanken Erdboden des Pfades warf, sah alles Grün gespenstisch aus. Aus dem Dunkel, von dem der Lichtstrahl ausging, waren zwei Stimmen zu hören, der rauhe Tenor des Inspektors und Dr. Fells schnaufender Baß.

»Aber sind wir denn nun dem Beweis auch nur ein Stückchen nähergekommen, Sir?«

»Ich glaube schon. Ich hoffe es. Wenn ich bei einem in unserer Runde den Charakter richtig gedeutet habe, dann wird er uns alles an Beweisen liefern, was wir brauchen.«

»Und wenn Ihre Lösung des Falles wirklich aufgeht.«

»Hmpf. Wenn sie aufgeht. Nichts als Träume und Phantasiegebilde und Spekulation; aber es sollte reichen.«

»Meinen Sie, es könnte da hinten« – Elliot machte eine Bewegung, als wolle er mit dem Kopf über die Schulter in Richtung von Madelines Haus weisen – »gefährlich werden?«

Ein paar Augenblicke lang hörte man nur das Farnkraut an ihren Beinen entlangstreifen, dann antwortete Dr. Fell.

»Teufel noch mal, ich wünschte, ich wüßte es. Aber ich glaube, die Gefahr ist nicht groß. Führen Sie sich noch einmal den Charakter des Mörders vor Augen. Ein verschlagener, irrwitziger Kopf unter dem freundlichen Äußeren – wie unser Automat, der ja auch einmal hübsch war. Aber mit Sicherheit nicht der tobsüchtige Irre, dessen Weg mit Leichen gepflastert ist. Kein Ungeheuer. Ein Mörder, der sich mäßigt, mein Junge. Wenn ich mir ausmale, wer nach der klassischen Theorie, daß ein Mord den nächsten nach sich zieht, schon alles ermordet sein SOLLTE, dann sträuben sich mir die Haare.

Wir haben schon Fälle erlebt, bei denen der Mörder die ursprüngliche Tat bis ins kleinste geplant hatte, und dann packt es ihn plötzlich, und er bringt alles um, was ihm in den Weg kommt. Anscheinend ist es wie bei Oliven im Glas: Man hat unendlich viel Mühe, die erste herauszubekommen, und dann kullern einem die anderen nur so über den Tisch. Ohne daß die Leute sich groß darüber aufregen. Unser Mörder ist human, mein Junge. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich habe nicht vor, ihn für seine vornehme Zurückhaltung zu loben, dafür, daß er so freundlich war, von weiteren Morden abzusehen. Aber liebe Güte, Elliot, überlegen Sie doch nur, wie viele da in Gefahr waren! Betty Harbottle hätte zum Schweigen gebracht werden können. Eine gewisse junge Dame hätte umgebracht werden können. Um das Leben eines gewissen Mannes habe ich von Anfang an gefürchtet. Aber keinen davon hat er angerührt. Ist das Eitelkeit? Oder was sonst?«

Schweigend kamen sie aus dem Wald und stiegen den Hügel hinab. Nur wenige Fenster von Farnleigh Close waren erleuchtet. Sie gingen durch jenen Teil des Gartens, der am weitesten vom Schauplatz des Mordes entfernt lag, und von da nach vorn zur Haustür. Knowles ließ sie ein.

»Lady Farnleigh hat sich zur Ruhe begeben, Sir«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Doch Dr. King bittet mich, Ihnen auszurichten, daß er die Herren nach oben bittet, wenn es Ihnen recht ist.«

»Betty Harbottle ist wieder …?« Elliot hielt inne.

»Jawohl, Sir. Nach allem, was ich höre.«

Elliot pfiff durch die Zähne, als sie die Treppe emporstiegen und den schwach erleuchteten Gang am Grünen Zimmer vorbei zu dem Raum einschlugen, in dem das Mädchen lag. Dr. King hielt sie noch einen Moment lang in der Tür fest, bevor er sie eintreten ließ.

»Also«, sagte King in seiner kurz angebundenen Art. »Fünf Minuten, höchstens zehn – nicht mehr. Ich will Sie warnen. Sie wird Ihnen so ruhig und unbekümmert vorkommen, als erzähle sie Ihnen von einem Ausflug, den sie gemacht hat. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Das gehört zur normalen Reaktion, und sie hat eine Dosis Morphin intus. Sie werden feststellen, daß sie ein aufgewecktes Mädel ist und einigermaßen intelligent – Neugier war schon immer Bettys auffälligster Wesenszug –; heizen Sie das nicht noch mehr an mit allzu vielen Andeutungen und Geheimnistuerei. Verstanden? Gut. Dann hinein mit Ihnen.«

Mrs. Apps, die Haushälterin, schlüpfte hinaus, als sie eintraten. Es war ein großes Zimmer, und jede Lampe in dem altmodischen Kronleuchter brannte. Sonst war der Raum eher bescheiden: An den Wänden hingen große, altväterlich wirkende Fotografien von Farnleighs, und auf der Frisierkommode stand eine Menagerie aus Porzellantieren. Das Bett war schwarz und schmucklos. Von dort betrachtete Betty sie mit einem gewissen Interesse.

Ihr Gesicht war von jenem Typ, den man »helle« nennt, das Haar kurz und sehr glatt. Ihre Blässe und die Ringe um die Augen waren die einzigen Anzeichen von Krankheit. Sie schien eher erfreut, sie zu sehen, und das einzige, was ihr ein wenig Angst einzujagen schien, war Dr. King. Mit langsamen Bewegungen fuhren ihre Hände über die Bettdecke.

Dr. Fell strahlte sie an. Seine gewaltige Erscheinung verbreitete im ganzen Zimmer Gemütlichkeit.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo, Sir«, erwiderte Betty und bemühte sich, es forsch zu sagen.

»Wissen Sie, wer wir sind, meine Liebe, und warum wir hier sind?«

»O ja. Ich soll Ihnen erzählen, was mit mir passiert ist.«

»Und können Sie das?«

»Mir macht das nichts aus«, erwiderte sie.

Sie heftete den Blick auf das Fußende des Bettes. Dr. King holte seine Taschenuhr hervor und legte sie auf den Frisiertisch.

»Tja, ich – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich bin nach oben gegangen und wollte mir einen Apfel holen …« Doch das überlegte Betty sich plötzlich anders. Sie regte sich im Bett. »Nein, das bin ich nicht!« sagte sie dann.

»Nicht?«

»Nein, ich bin nicht nach oben gegangen, weil ich einen Apfel wollte. Wenn ich wieder gesund bin, holt meine Schwester mich von hier fort (und einen schönen Tag in Hastings gönnen wir uns auch), da kann ich es Ihnen ruhig sagen. Ich bin nicht nach oben gegangen, weil ich mir einen Apfel holen wollte. Ich bin oft oben gewesen, weil ich immer gedacht hab, irgendwann kann ich vielleicht mal einen Blick in den Schrank oben werfen, den, der immer verschlossen war, und sehen, was drin ist.«

Ihr Ton hatte nichts Trotziges; sie war zu erschöpft, um trotzig zu sein, und so, wie sie ohne jede Hemmung redete, hatte man den Eindruck, daß sie weniger unter dem Einfluß von Morphium, sondern eher unter dem von Scopolamin stand.

Dr. Fell setzte eine verblüffte Miene auf. »Aber was sollte denn da schon drin sein, was Sie interessiert hätte?«

»Oh, das wissen alle, Sir. Jemand hat ihn regelmäßig benutzt.«

»Benutzt?«

»Hat mit einer Lampe drin gesessen. Im Dach ist ein kleines Fenster. Wenn man abends ein Stück vom Haus ab ist und Licht oben ist, kann man das an dem Fenster sehen. Alle wissen es, obwohl wir ja eigentlich nicht nach so was sehen dürfen. Sogar Miss Dane weiß es. Ich war mal spät abends drüben bei Miss Dane und habe ihr ein Päckchen von Sir John gebracht, und ich wollte durch den Wald zurückgehen. Miss Dane hat gefragt, ob ich mich denn nicht im Dunkeln fürchte. O nein, habe ich gesagt, vielleicht sehe ich ja sogar das Licht oben im Dach, das wäre die Sache wert. Das war aber nur ein Witz; das Licht ist ja auf der Südseite, und wenn man über den Pfad aus dem Chart kommt, kommt man an die Nordseite. Miss Dane hat gelacht und mir den Arm um die Schulter gelegt und hat gefragt, ob ich die einzige bin, die das gesehen hat. O nein, habe ich gesagt, das wissen alle; und das stimmte ja auch. Und wir waren alle neugierig wegen der Maschine da drin, dieser Puppe wie ein Grammophon …«