»Eine alte Jungfer wie mich …«
»Madeline, ganz gleich, was du sonst sagst, bitte sage nicht alte Jungfer. Es gibt kaum ein häßlicheres Wort in unserer Sprache. Kaum eins, das so voller Häme ist. Um dich zu beschreiben, da müßte man …«
Wieder fiel ihm das seltsame Leuchten in ihren Augen auf.
»Brian, wenn du mich wirklich liebst (wirklich?), kann ich dir dann etwas zeigen?«
Draußen im Garten waren Schritte zu hören. Madeline hatte ihre Frage in einem merkwürdigen Ton gestellt, so merkwürdig, daß es Page aufhorchen ließ; doch nun blieb keine Zeit mehr, um nachzufragen. Als sie das Geräusch im Gras hörten, traten sie rasch einen Schritt auseinander. Zwischen den Lorbeerbüschen zeichneten sich nun Umrisse ab und kamen näher. Es war eine hagere Gestalt mit schmalen Schultern, und sie ging mit raschen und doch zugleich schlurfenden Schritten – woran Page zu seiner Erleichterung erkannte, daß es nur Nathaniel Burrows war.
Anscheinend konnte Burrows sich nicht entscheiden, ob er sein Heilbuttsgesicht aufsetzen oder ob er lächeln sollte, und der Kampf zwischen beiden brachte eine freundliche Grimasse hervor. Die große Hornbrille ließ das Pendel aber doch zum Ernsthaften ausschlagen. Das lange Gesicht, das durchaus charmant sein konnte, wenn er ihm eine Chance dazu ließ, zeigte von diesem Charme nun bestenfalls einen Anflug. Den korrekten Bowlerhut hatte er in einem etwas verwegenen Winkel auf dem Kopf.
»Ts! ts!« war sein einziger Kommentar, doch er lächelte dazu. »Ich komme«, erklärte er freundlich, »um den Automaten zu holen.«
»Den …« Madeline sah ihn mit großen Augen an. »Den Automaten?«
»Du solltest nicht am offenen Fenster stehen«, tadelte Burrows streng. »Es verwirrt dir den Kopf, und die Besucher haben den Schaden davon. Und du auch nicht«, fügte er an Page gewandt hinzu. »Die Puppe, Madeline. Die Figur, die du heute nachmittag von Farnleigh Close hast kommen lassen.«
Page musterte sie. Sie starrte Burrows an, und die Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Nat, was um alles in der Welt redest du da? Die Figur, die ich habe kommen lassen? Wie kommst du denn auf so etwas?«
»Meine liebe Madeline«, erwiderte Burrows, breitete die behandschuhten Hände aus und brachte sie dann wieder zusammen, »ich habe dir noch gar nicht richtig für all das Gute danken können, das du für mich getan hast – bei der gerichtlichen Untersuchung. Aber verdammt noch mal!« – hier sah er sie von der Seite her an, an den Brillengläsern vorbei –, »du hast heute nachmittag im Herrenhaus angerufen und gebeten, daß sie dir das Ding leihen. Macneile und Parsons haben es hergebracht. Es steht drüben im Kohlenschuppen.«
»Du mußt vollkommen verrückt sein«, sagte Madeline mit hoher, verblüffter Stimme.
Burrows war, wie üblich, vernünftig. »Nun, sie steht im Schuppen, das ist nicht zu leugnen. Ich habe an der Haustür geklopft, aber keiner hat mich gehört. Ich kam hier heraus, und – ähm – es hat mich immer noch keiner gehört. Mein Auto steht draußen auf der Straße. Ich bin hergekommen, um den Automaten zu holen. Was du damit wolltest, weiß ich nicht; aber wäre es sehr schlimm, wenn ich ihn wieder mitnähme? Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie er in meine Theorie hineinpaßt. Aber ich habe einen Experten ausfindig gemacht, der ihn sich ansehen will, und vielleicht bringt mich das auf etwas.«
Der Kohlenschuppen war ein Anbau ein wenig links von der Küche. Page ging hinüber und öffnete die Tür. Dort stand der Automat. Er konnte die Umrisse gerade noch erkennen.
»Seht ihr?« sagte Burrows.
»Brian«, beteuerte Madeline recht verwirrt, »glaube mir, ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe niemanden gebeten, das Ding hierherzuschicken; ich wäre nie auf den Gedanken gekommen. Was um alles in der Welt sollte ich damit?«
»Natürlich hast du das nicht, das weiß ich doch«, beschwichtigte Page sie. »Es scheint, daß jemand sich einen häßlichen Scherz erlaubt hat.«
»Sollen wir nicht ins Haus gehen?« schlug Burrows vor. »Ich würde mich gern mit euch beiden darüber unterhalten. Ich gehe nur eben nach vorn und schalte das Standlicht an.«
Die beiden anderen gingen ins Haus und sahen einander an. Aus dem Radio kamen statt der Musik nun Worte – welcher Art, weiß Page nicht mehr –, und Madeline stellte es ab. Sie war immer noch in Gedanken bei diesem jüngsten Vorfall.
»Das alles ist nicht wahr«, sagte sie. »Es ist Illusion. Ein Traumgespinst. Das heißt – ein Teil davon ist doch wahr, hoffe ich.« Sie lächelte ihn an. »Hast du noch eine Ahnung, was hier eigentlich vorgeht?«
Was in den Sekunden darauf geschah, weiß Page bis heute nicht recht. Er hatte ihre Hand ergriffen und wollte ihr eben versichern, wie ganz und gar gleichgültig ihm war, was draußen geschah, solange nur die Minuten am Fenster keine Illusion gewesen waren. Beide hörten sie den Knall, der vom Garten oder von den Obstbäumen herkam. Es war ein kurzer, knapper Schlag, laut genug, daß sie beide zusammenfuhren. Doch er schien etwas Fremdes, das nichts mit ihnen zu tun hatte, selbst da noch, als sie nahe an ihren Ohren ein Sirren hörten – und eine der Uhren stehenblieb.
Eine der Uhren blieb stehen. Page hörte es im selben Augenblick, in dem er das kleine runde Loch, von einem Netz feiner Risse umgeben, in der Fensterscheibe entdeckte. Und es ging ihm auf, daß die Uhr stehengeblieben war, weil eine Kugel darin steckte.
Die andere Uhr tickte weiter.
»Fort von dem Fenster!« zischte Page. »Das kann doch nicht wahr sein – ich glaube es einfach nicht –, da ist jemand draußen im Garten und schießt auf uns. Wo zum Teufel ist Nat geblieben?«
Er huschte hinüber und schaltete das Licht aus. Die Kerzen brannten noch, und er blies sie aus, gerade als Burrows, das Gesicht glänzend, den Hut tief in die Stirn gedrückt, durch die Terrassentür kam, an den Boden geduckt, als suche er Deckung.
»Da ist jemand …« hob Burrows mit seltsamer Stimme an.
»Stimmt. Das haben wir schon gemerkt.«
Page schob Madeline noch weiter fort vom Fenster. Fünf Zentimeter mehr nach links, kalkulierte er nach dem Winkel von Scheibe und Uhr, hätten genügt, und die Kugel hätte Madelines Kopf getroffen, gerade oberhalb der Löckchen.
Es blieb bei dem einen Schuß. Er hörte Madelines ängstliches Keuchen und die langsamen, klaren Atemzüge Burrows’ vom anderen Ende des Zimmers. Burrows hatte sich in die Nische des äußersten Fensters gedrückt; nur ein polierter Schuh war noch zu sehen.
»Wollt ihr wissen, was für meine Begriffe da geschehen ist?« fragte Burrows.
»Nun?«
»Soll ich euch zeigen, was das, so wie ich es verstehe, war?«
»Nur zu.«
»Wartet«, flüsterte Madeline. »Da ist noch jemand – hört doch nur!«
Burrows’ Kopf erschien wie der einer Schildkröte aus der Fensternische. Page erkannte die Stimme, die vom Garten rief, und antwortete. Es war Elliots Stimme. Er eilte hinaus und lief dem Inspektor entgegen, den er vom Obstgarten herüberkommen sah. Mit welchem Gesicht Elliot den Bericht aufnahm, den Page ihm gab, war im Dunkel nicht zu sehen, und auch seine ganze Art, die sogleich hochoffiziell war, ließ keine Schlüsse zu.
»Verstehe, Sir«, sagte er. »Aber ich glaube, Sie können die Lampen wieder einschalten. Ich würde nicht damit rechnen, daß Sie noch einmal belästigt werden.«
»Aber wollen Sie denn nichts unternehmen, Inspektor?« fragte Burrows mit dünner, tadelnder Stimme. »Oder sind Sie so etwas in London gewöhnt? Wir sind es nicht, das versichere ich Ihnen.« Er wischte sich die Stirn mit dem Rücken der behandschuhten Hand. »Wollen Sie denn nicht den Garten durchsuchen? Oder den Obstgarten? Oder von wo der Schuß sonst kam?«
»Wie gesagt, Sir«, erwiderte Elliot hölzern, »ich glaube nicht, daß Sie noch einmal belästigt werden.«
»Aber wer war es? Weswegen hat er geschossen?«
»Worauf es jetzt ankommt, Sir«, antwortete Elliot, »das ist, daß wir diesem Spuk ein Ende bereiten. Und zwar ein für allemal. Wir haben unsere Pläne ein wenig geändert. Ich möchte Sie bitten, daß Sie, wenn es Ihnen recht ist, mit mir hinüber zum Herrenhaus kommen – nur für alle Fälle, verstehen Sie. Ich fürchte, ich muß sogar sagen, daß es keine Bitte ist, sondern eine Aufforderung.«