»Oh, niemand von uns hat etwas dagegen«, erwiderte Page munter, »obwohl man ja denken könnte, wir hätten schon genug Aufregung für einen Abend gehabt.«
Der Inspektor lächelte auf eine Art, die nicht schön anzusehen war.
»Ich glaube, da täuschen Sie sich«, sagte er. »Was Sie bisher an Aufregung hatten, war kaum der Rede wert. Aber glauben Sie mir, es wird noch aufregend werden. Das verspreche ich Ihnen, Mr. Page. Ist jemand mit dem Wagen hier?«
Elliots düstere Drohung hing über ihnen, als Burrows sie nach Farnleigh Close chauffierte. Alle Versuche, vom Inspektor mehr zu erfahren, blieben erfolglos. Burrows hatte gedrängt, den Automaten ebenfalls mitzunehmen, doch Elliot wollte nichts davon hören; dazu bleibe keine Zeit und es werde auch nicht notwendig sein.
Ein besorgt dreinblickender Knowles ließ sie ein. Die Atmosphäre war gespannt, und Mittelpunkt des Kraftfeldes war, wie zwei Tage zuvor, die Bibliothek, wo sich nun wiederum die Glühbirnen des Kronleuchters in der großen Fensterfront spiegelten. In dem Lehnstuhl, in dem seinerzeit Murray gesessen hatte, hatte nun Dr. Fell Platz genommen, und Murray saß ihm gegenüber. Die Hand hatte Dr. Fell auf seinen Stock gestützt, die Unterlippe vorgereckt, so daß sie vor seinen Kinnen vorstand. Sobald die Bibliothekstür sich öffnete, spürten sie den Widerhall starker Emotionen. Denn Dr. Fell war eben mit seinen Erläuterungen zu Ende gekommen, und Murray bedeckte sich mit unsteter Hand die Augen.
»Ah«, sagte der Doktor mit verdächtiger Herzlichkeit. »Guten Abend, guten Abend, guten Abend! Miss Dane. Mr. Burrows. Mr. Page. Gut. Ich fürchte, wir haben das Haus auf recht unfeine Weise requiriert, aber die Umstände machen es erforderlich. Es ist dringend notwendig, daß wir zu einer kleinen Konferenz zusammenkommen. Kuriere sind entsandt, um Mr. Welkyn und Mr. Gore zu verständigen. Knowles, könnten Sie Lady Farnleigh bitten, zu uns herunterzukommen? Oder nein, gehen Sie nicht selbst, schicken Sie eines der Mädchen; Sie selbst sollten uns ebenfalls Gesellschaft leisten. Einiges können wir in der Zwischenzeit schon besprechen.«
Der Ton, in dem er das sagte, ließ Nathaniel Burrows, der sich eben setzen wollte, innehalten. Er hob gebieterisch die Hand. Murray sah er nicht an.
»So schnell geht das nicht«, erklärte Burrows. »Halt! Wird es in dieser Unterhaltung etwas geben, was – äh – rechtliche Folgen haben könnte?«
»Mit Sicherheit.«
Wieder zögerte Burrows. Er hatte Murray keines Blickes gewürdigt, doch Page, dessen Blick vom einen zum anderen wanderte, spürte Mitleid mit Murray, ohne daß er sagen konnte, warum. Der Schulmeister sah alt und niedergeschlagen aus.
»Oh. Und was soll hier zur Sprache kommen, Doktor?«
»Es geht um den Charakter einer gewissen Person«, antwortete Dr. Fell. »Sie werden sich denken können, wer es ist.«
»Ja«, stimmte Page zu, doch eher, als spräche er laut mit sich selbst. »Die Person, die Victoria Daly in die Geheimnisse des Hexenkultes einweihte.«
Es war bemerkenswert, dachte er, welche Wirkung dieser Name hatte. Man mußte nur die Worte »Victoria Daly« in einen Satz einflechten wie einen Talisman, und alle schreckten davor zurück; neue Ansichten eröffneten sich sogleich, die anscheinend niemand gerne sah. Dr. Fell, ein wenig überrascht, doch interessiert, wandte sich um und blinzelte ihn an.
»Ah!« sagte der Doktor mit einem anerkennenden Schnaufen. »Das haben Sie also erraten.«
»Ich habe versucht, es mir auszumalen. Wäre diese Person dann auch der Mörder?«
»Diese Person ist der Mörder.« Dr. Fell wies mit dem Stock auf ihn. »Es wäre uns willkommen, wenn Sie diese Ansicht teilten. Lassen Sie uns hören, was Sie sich überlegt haben. Und keine Hemmungen, mein Junge. Wir werden Schlimmeres in diesem Zimmer zu hören bekommen, bevor einer von uns es wieder verläßt.«
Mit viel Bedacht und einer Bildhaftigkeit der Sprache, die er sonst eher mied, erzählte Page noch einmal die Geschichte, die er schon Madeline erzählt hatte. Dr. Fells kluge kleine Augen ließen sein Gesicht keine Sekunde lang aus dem Blick, und Inspektor Elliot vermerkte jedes Wort. Der mit Salbe eingeriebene Körper, das dunkle Haus mit dem offenen Fenster, der Vagabund, der vor Schreck die Nerven verliert, die dritte Person, die schon wartete: all diese Bilder nahmen so lebendig Gestalt an, als sähen sie in der Bibliothek einen Film.
Am Ende ergriff Madeline das Wort. »Ist das wahr? Sehen Sie und der Inspektor das ebenso?«
Dr. Fell nickte nur.
»Dann frage ich Sie, was ich vorhin auch Brian schon fragen wollte. Wenn es, wie er sagt, keinen Hexenkult gibt, wenn es nur Phantasie war – was tat denn dann diese ›dritte Person‹ oder was wollte sie tun? Was ist denn mit den Beweisen, den Spuren, die diese Hexerei hinterlassen hat?«
»Ach, die Beweise«, sagte Dr. Fell.
Nach einer Weile fuhr er fort:
»Ich will versuchen, es zu erklären. Sie haben in Ihrer Mitte jemanden, dessen Verstand und Herz schon seit vielen Jahren beherrscht wird von einer geheimen Liebe zu diesen Dingen und allem, wofür sie stehen. Nicht vom Glauben daran! Der Unterschied ist wichtig. Das müssen Sie sich immer vor Augen halten. Man könnte sich gar niemanden vorstellen, dessen Verhältnis zu den Mächten der Finsternis und dem Herrn der Wegkreuzungen zynischer wäre. Aber einer großen Liebe dazu, die um so mächtiger und drängender durch den (ganz und gar prüden) Wunsch wird, es niemanden merken zu lassen. Denn diese Person, verstehen Sie, gibt sich Ihnen gegenüber als ein vollkommen anderer Mensch. Diese Person würde Ihnen gegenüber niemals eingestehen, daß sie sich für solche Dinge auch nur interessiert, in dem Maße, wie Sie und ich uns vielleicht dafür interessieren. Dieses geheime Interesse, die Sehnsucht, es mit jemandem zu teilen, die Sehnsucht vor allem, das Wissen an anderen zu erproben – das alles wurde so übermächtig, daß es irgendwann seine Fesseln sprengen mußte.
In welcher Lage fand diese Person sich also nun? Was konnte sie tun? Konnte sie einen neuen Hexenkult in Kent begründen, die Bräuche wiederbeleben, die es in früheren Jahrhunderten in dieser Gegend gab? Die Idee war faszinierend, doch diese Person wußte, wie aussichtslos ein solches Unternehmen war. Denn diese Person ist ein ausgesprochen praktischer Mensch.
Die kleinste Gruppe in der Hierarchie der Satanskulte war (darf ich die Vergangenheitsform benutzen?) der Sabbat. Zum Sabbat trafen sich dreizehn Leute, zwölf Hexen und ein maskierter Anführer. Mit einer Janusmaske vor dem Gesicht einen solchen Hexentanz anzuführen, das muß für die Person, um die es uns geht, ein wunderbarer Traum gewesen sein – aber nicht mehr als das. Nicht nur, daß die praktischen Schwierigkeiten unüberwindlich waren. Hinzu kam, daß die Sache, wenn sie interessant bleiben sollte, nur mit einigen wenigen geteilt und nicht zu bekannt werden durfte. Es war ein geheimes Interesse, und es mußte eng begrenzt und persönlich und individuell bleiben.
Das, lassen Sie mich es noch einmal betonen, war keine vornehme Zurückhaltung gegenüber den Mächten des Bösen, sofern solche Mächte denn existieren. Solche hohen Ambitionen steckten nicht dahinter; oder, um es besser zu sagen, kein so großer Hokuspokus. Die Sache folgt keinem großen Plan. Die Person, die dahintersteckt, ist nicht sonderlich intelligent. Es war kein ernsthafter Kult, wie es sie seinerzeit nachweislich gegeben hat. Es war einfach ein müßiger, eitler Spaß an solchen Dingen, eine Art Hobby. Und hätten wir ein wenig mehr Glück gehabt, wäre kein großer Schaden dadurch entstanden – hätte diese Person nur die Finger von gefährlichen Giften gelassen, die Wahnvorstellungen wecken. Wenn Leute einfach zum Spaß ihren Unsinn treiben, wenn sie keine Gesetze verletzen, ja nicht einmal Anstandsregeln, dann geht es die Polizei nichts an. Doch wenn erst einmal eine Frau an Belladonna, das sie sich auf die Haut gerieben hat, stirbt (und genau das ist vor anderthalb Jahren in Tunbridge Wells geschehen, auch wenn wir es nie beweisen konnten), dann ist es, zum Teufel, eine Sache für die Polizei! Was denken Sie denn, warum Elliot überhaupt hergeschickt wurde? Was meinen Sie, warum hat er so viel über Victoria Daly wissen wollen? Hm?