Dämmert es Ihnen allmählich, was jemand hier getan hat?
Dieser Jemand suchte sich ein paar empfängliche Freunde aus, denen er sich anvertraute. Es waren nicht viele: zwei oder drei, vielleicht vier. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wer diese Freunde waren. Unser Jemand hat ihnen Dinge erzählt, immer wieder von neuem. Sie bekamen Bücher geschenkt oder geliehen. Dann, wenn der Kopf von Freund oder Freundin genügend mit abenteuerlichen Geschichten gefüllt war, wenn er erregt genug war, dann war die Zeit reif. Dann erfuhren die Freunde, daß es hier in der Gegend einen geheimen Satanskult gebe und daß sie nun bereit seien für die Aufnahme.«
Es gab einen lauten Schlag, als Dr. Fell mit der Spitze seines Stocks auf den Boden schlug. Er war ungeduldig, und er war ärgerlich.
»Natürlich hat es einen solchen Kult nie gegeben. Natürlich haben die Neophyten nie das Haus verlassen, sich nicht aus ihrem Zimmer gerührt, wenn die Nacht der Versammlung kam. Natürlich war all das das Werk einer Salbe, deren beide Hauptbestandteile Eisenhut und Tollkirsche waren.
Und natürlich ging der Anstifter in der Nacht der ›Zusammenkunft‹ in der Regel nicht einmal in die Nähe von Freund oder Freundin, geschweige denn, daß er wirklich an einem Sabbat teilgenommen hätte. Das wäre zu gefährlich gewesen, wenn sich das Gift der Salbe als zu stark erwies. Der Spaß bestand darin, die Lehre zu verbreiten, den Bericht von (mythischen) Abenteuern mit anderen zu teilen und mit anzusehen, wie der Geist des Neulings unter dem Einfluß von Gift und vorgegaukelten Traumbildern vom Sabbat allmählich verfiel – kurz, die Verbindung aus einer recht einfältigen seelischen Grausamkeit und dem Vergnügen, all diese Dinge in der Sicherheit eines engen Kreises auszuleben.«
Dr. Fell hielt inne. Das Schweigen, das folgte, brach Kennet Murray mit nachdenklichen Worten.
»Die Psyche ist dieselbe wie bei Leuten, die anonyme Briefe schreiben«, sagte er.
»Das trifft es genau«, bestätigte Dr. Fell und nickte. »Fast das gleiche Verhalten, nur zu anderen und noch schädlicheren Zwecken eingesetzt.«
»Aber wenn Sie bei der anderen Frau – derjenigen in Tunbridge Wells, von der ich bisher nicht gehört hatte – nicht beweisen können, daß sie an dem Gift gestorben ist, was hilft Ihnen das alles dann? Hat die ›Person‹ wirklich etwas getan, was ungesetzlich war? Victoria Daly ist nicht an Gift gestorben.«
»Das wäre Ansichtssache«, gab Inspektor Elliot zu bedenken. »Sie meinen offenbar, ein Gift wird erst zum Gift, wenn jemand es einnimmt. Ich könnte Ihnen das Gegenteil beweisen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Dr. Fell wollte nur, daß Sie das Geheimnis kennen.«
»Das Geheimnis?«
»Das Geheimnis jener Person«, erklärte Dr. Fell. »Um dieses Geheimnis zu wahren, mußte vorgestern abend am Teich jemand sterben.«
Wieder trat ein Schweigen ein, diesmal finsterer, so als sei jeder in Gedanken einen Schritt zurückgewichen.
Nathaniel Burrows lockerte sich den Kragen.
»Das ist gewiß interessant«, sagte er. »Hochinteressant. Aber ich finde doch, daß man mich unter falschen Vorzeichen hergebracht hat. Ich bin Anwalt, kein Experte für Satanskulte. Ich sehe nicht, was diese Kulte mit dem einzigen zu tun haben sollten, was mich an dieser Sache interessiert. Was Sie uns beschrieben haben, hat nicht das geringste mit der Frage nach dem rechtmäßigen Erben des Farnleigh-Besitzes zu tun …«
»Da täuschen Sie sich«, sagte Dr. Fell.
Und er fuhr fort:
»Genauer gesagt, steckt diese Frage sogar im Kern der ganzen Angelegenheit, und ich hoffe, daß ich Ihnen das in etwa zwei Sekunden vor Augen führen kann.«
»Aber Sie« – er blickte zu Page hinüber, zum Zeichen, daß er aufgriff, was dieser zuvor dargelegt hatte –, »Sie haben vorhin gefragt, was diese Person denn überhaupt darauf gebracht hat, sich mit solchen Praktiken abzugeben. War es die schiere Langeweile? War es ein Schaden, den sie schon von Kindheit an hatte und der nun von Jahr zu Jahr größer wurde? Ich denke mir, es war ein klein wenig von beidem. Alles an diesem Fall ist zusammen großgeworden, so wie die giftige Atropa belladonna draußen in der Hecke wächst. Alle Stränge sind miteinander verflochten und nicht mehr zu entwirren.
Wer könnte das sein, jemand mit solchen Instinkten und immer gezwungen, sie zu unterdrücken? An wem können wir, nun wo wir alles Beweismaterial vor uns haben, einen solchen Charakter finden? Wer kann der eine sein – und nur einer ist es –, der beide Spielzeuge in der Hand hat, die Hexerei und den Mord? Wer hat ohne Zweifel an der Langeweile einer lieblosen, elenden Ehe gelitten und hatte zugleich ein Übermaß an Lebenskraft in sich, das sich nur …«
Burrows sprang mit einem lauten Fluch von seinem Stuhl auf, als ihm aufging, wer es war.
Im selben Augenblick öffnete sich die Bibliothekstür, und Knowles hielt flüsternd Zwiesprache mit jemandem draußen.
Knowles war bleich im Gesicht, als er den anderen eröffnete, was er erfahren hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich höre eben, daß – daß Lady Farnleigh nicht auf ihrem Zimmer ist. Es heißt, sie habe schon vor einiger Zeit eine Reisetasche gepackt und einen Wagen aus der Garage geholt und …«
Dr. Fell nickte.
»So ist es«, sagte er. »Deshalb müssen wir auch heute abend nicht mehr nach London. Mit ihrer Flucht hat sie sich verraten. Nun werden wir ohne weiteres einen Haftbefehl erwirken können – einen Haftbefehl gegen Lady Farnleigh, und die Anklage lautet auf Mord.«
Kapitel 20
»Also hören Sie!« rief Dr. Fell, pochte mit seinem Stock auf den Boden und blickte sich mit wohlwollend tadelnder Miene in der Gruppe um. Er war amüsiert, zugleich aber auch verärgert. »Sie werden doch nicht sagen wollen, daß Sie überrascht sind? Sie wollen doch nicht sagen, Sie sind schockiert? Sie, Miss Dane! Haben Sie es denn nicht von Anfang an gewußt? Haben Sie nicht gewußt, wie sehr sie Sie gehaßt hat?«
Madeline wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dann streckte sie die Hand nach Pages Arm aus.
»Gewußt habe ich gar nichts«, sagte Madeline. »Eine Ahnung hatte ich. Aber das konnte ich Ihnen ja wohl zu Anfang nicht sagen, oder? Sie haben mich ja auch so schon für ein ziemliches Biest gehalten, fürchte ich.«
Page brauchte eine ganze Weile, bis er wieder wußte, wo er stand, und den anderen erging es offenbar nicht viel besser. Doch nun ging ihm noch etwas auf, noch bevor die vorige Erkenntnis wirklich verarbeitet war. Was er dachte, war:
Die Sache ist noch nicht zu Ende.
Ob es eine Andeutung war, die in Dr. Fells Augen flackerte, eine Bewegung seiner Hand oder seines Stockes, womöglich sogar ein Erbeben des ganzen Kolosses, das konnte er nicht sagen. Aber der Eindruck war unmißverständlich, und auch die anderen blickten alle gespannt auf Dr. Fell, als warteten sie nur auf die nächste Enthüllung. Irgendwo gab es noch einen Hinterhalt. Irgendwo warteten die Gewehre, die eine weitere Salve auf ihren Verstand abfeuern würden.
»Erzählen Sie weiter«, sagte Murray mit ruhiger Stimme. »Ich zweifle nicht, daß Sie recht haben; aber jetzt weiter.«
»Stimmt«, sagte Burrows geistesabwesend – und setzte sich wieder.
Die mächtige Stimme des Doktors klang schläfrig in der Stille der Bibliothek.
»Was die rein materielle Beweislage angeht«, fuhr er fort, »konnte an dieser Lösung von vornherein kaum ein Zweifel bestehen. Der Mittelpunkt allen Aufruhrs, des psychischen wie des äußerlichen, ist immer hier gewesen. Der Mittelpunkt war das verschlossene Bücherkabinett auf dem Dachboden. Jemand hatte es sich dort bequem gemacht. Jemand hatte die Bestände inspiziert, Bücher herausgeholt und wieder zurückgestellt, mit den Spielzeugen dort gespielt. Jemand, der schon immer für seine outrierten Aktivitäten bekannt war, hatte eine Art Räuberhöhle daraus gemacht.