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Die Vorstellung, daß es ein Außenstehender gewesen sein könnte – daß etwa ein Nachbar sich in dieses Nest geschlichen hätte –, war so abwegig, daß man sie gar nicht ernsthaft verfolgen mußte. Ein solches Vorgehen wäre psychologisch wie praktisch unmöglich gewesen. Man macht keinen Ein-Mann-Club auf dem Dachboden eines fremden Hauses auf, schon gar nicht, wenn die neugierige Dienerschaft zuschaut. Man kommt nicht am späten Abend in dieses Haus, ohne daß Diener und andere einen sehen. Man manipuliert nicht einfach ein neues Vorhängeschloß, über das der Hausherr wacht. Denn Sie werden einsehen, daß zwar zum Beispiel Miss Dane« – Dr. Fell lächelte ihr mit Engelsmiene zu –, »daß zum Beispiel Miss Dane einmal einen Schlüssel zu dieser Kammer besaß, daß dieser jedoch nicht mehr auf das Schloß gepaßt hätte, das nun vor der Tür hing.

Nächste Frage: Was quälte Sir John Farnleigh so?

Denken Sie darüber einmal nach, meine Damen und Herren.

Warum fand dieser ruhlose Puritaner, den die Sorge um seine Herkunft so sehr verfolgte, niemals Trost in seinem eigenen Heim? Welche Gedanken gingen ihm ansonsten noch durch den Kopf? Warum geht er am Abend, an dem man ihm sein Erbe streitig machen will, nur im Zimmer auf und ab und spricht von Victoria Daly? Warum ist er so besorgt, daß Detektive sich in der Nachbarschaft nach ›Folklore‹ erkundigen? Was steckt hinter seinen kryptischen Worten gegenüber Miss Dane? In Augenblicken der Erregung, ›wenn er an der Kirche vorüberkam, blickte er jedesmal empor, und dann stöhnte er: Könnte ich doch nur einmal …

Könnte er was? Sich gegen jene durchsetzen, die diese Kirche schändeten? Warum geht er mit einer Hundepeitsche in der Hand auf den Dachboden, kommt aber bleich und schweißgebadet wieder herunter, außerstande, bei dem, den er dort oben findet, von der Peitsche Gebrauch zu machen?

Die entscheidenden Punkte in diesem Fall sind psychologischer Art, und sie sind nicht minder entlarvend als die äußerlichen, zu denen ich gleich kommen werde; es wird wohl das beste sein, ich führe sie hier auf.«

Dr. Fell hielt inne. Er starrte lange und recht bekümmert auf die Tischplatte. Dann holte er seine Pfeife hervor.

»Lassen Sie uns doch einmal überlegen, wer dieses Mädchen Molly Sutton war – eine resolute Frau und gute Schauspielerin. Eines hat Patrick Gore vorgestern abend über sie gesagt, was den Nagel auf den Kopf traf. Die meisten von Ihnen waren ja offenbar schockiert, als er sagte, sie sei nie in den Farnleigh verliebt gewesen, den Sie kannten. Er sagte, sie habe eine ›Projektion‹ des Jungen geheiratet, den sie vor so vielen Jahren gekannt hatte. Und das ist die Wahrheit. Welche Wut sie packte, als ihr aufging, daß er nicht mehr derselbe Junge war, ja nicht einmal derselbe Mann, das werden wir wohl nie erfahren.

Woher kam nun diese Obsession, dieser Wahn im Gehirn eines siebenjährigen Mädchens?

Die Frage ist nicht schwer zu beantworten. Das ist das Alter, in dem wir durch äußerliche Erfahrung in unseren grundsätzlichsten Vorlieben geprägt werden. Die Einflüsse aus dieser Zeit bleiben für immer, selbst wenn wir glauben, wir hätten sie vergessen. Bis ans Ende meiner Tage werde ich Bilder von dicken alten Holländern mögen, die Schach spielen oder ihre langen Tonpfeifen rauchen, und zwar, weil solche Bilder an den Wänden im Arbeitszimmer meines Vaters hingen, als ich ein kleiner Junge war. Wenn Sie Enten mögen oder Gespenstergeschichten oder mechanische Apparate, dann aus denselben Gründen.

Nun, wer war der eine Mensch, der den jungen John Farnleigh angebetet hat, als sie beide noch Kinder waren? Wer war die einzige, die zu ihm gestanden hat? Wen hat John Farnleigh mit in den Wald und ins Zigeunerlager genommen? – Wohlgemerkt: in das Zigeunerlager, behalten Sie das im Gedächtnis. Welche satanischen Geschichten hat sie ihn erzählen hören, bevor sie überhaupt wußte, wovon er sprach, ja bevor sie auch nur verstand, was ihr in der Sonntagsschule gepredigt wurde?

Und die Jahre dazwischen? Wir wissen nicht, wie die Vorliebe sich in ihren Gedanken weiterentwickelte. Nur das eine: sie verbrachte viel Zeit bei den Farnleighs, denn sie hatte bei dem alten und dem jungen Sir Dudley genug Einfluß, um Knowles seine Stellung als Butler zu verschaffen. – Nicht wahr, Knowles?«

Er blickte sich nach ihm um.

Von dem Augenblick an, in dem Dr. Fell Lady Farnleighs Namen genannt hatte, hatte er sich nicht mehr gerührt. Er war vierundsiebzig Jahre alt. Sein fast transparentes Gesicht, das sonst kein Gefühl verbarg, war nun vollkommen ausdruckslos. Er öffnete und schloß den Mund und nickte zur Antwort, doch er sprach kein Wort. Er schien zu keinem anderen Gefühl mehr fähig als zu schierem Entsetzen.

»Es ist denkbar«, fuhr Dr. Fell fort, »daß sie schon vor langem Bücher aus jener verschlossenen Bibliothek holte. Wann sie Anhänger für ihren Satanskult zu werben begann, hat Elliot nicht herausfinden können, aber es war etliche Jahre vor ihrer Heirat. Die Zahl von Männern in dieser Gegend, die ihre Liebhaber waren, würde Sie überraschen. Aber über die satanistischen Umtriebe können oder wollen sie nichts sagen. Und das ist ja letzten Endes das einzige, was uns angeht. Es ist das, was ihr am wichtigsten war, und der Grund für die Tragödie. Denn was geschah?

Der so lange und so romantisch verschollene ›John Farnleigh‹ kehrte zurück zum, wie es hieß, Besitz seiner Vorväter. Für kurze Zeit war Molly Sutton überglücklich. Ihr Held kehrte heim. Ihr großes Vorbild. Ihn zu heiraten war sie fest entschlossen – der Welt und eventuell ihm selbst zum Trotze. Und vor einem guten Jahr – einem Jahr und drei Monaten, um genau zu sein – wurde sie seine Frau.

Lieber Himmel, gab es je ein Paar, das schlechter zusammenpaßte?

Ich frage das in allem Ernst. Sie wissen, wen und was sie zu heiraten glaubte. Sie wissen auch, was für einen Ehemann sie statt dessen bekam. Sie können sich vorstellen, welch kalte Verachtung er insgeheim für sie empfand, mit welch eisiger Höflichkeit er sie behandelte, als er dahinterkam, wer sie wirklich war. Sie können sich vorstellen, was sie für ihn empfand, wie sie die brave Ehefrau spielen mußte und immer wußte, daß er sie durchschaute. Und beide taten ja aus Höflichkeit stets so, als wüßten sie nicht, was der andere weiß. Und so wie er alles über sie wußte, war sie ja gewiß auch binnen kurzem darauf gekommen, daß er nicht der echte John Farnleigh war. So teilte also jeder das Geheimnis des anderen in uneingestandenem Haß.

Warum hat er sie nie angeprangert? Nicht nur, daß sie etwas war, was er mit seiner puritanischen Seele in die tiefste Hölle wünschte. Nicht nur, daß er mit der Peitsche auf sie losgegangen wäre, wenn er es gewagt hätte. Zu alldem kam ja noch (und da sollten wir uns nichts vormachen, meine Herren), daß sie eine Verbrecherin war. Sie verleitete andere zu Drogen, die gefährlicher waren als Heroin und Kokain – und er wußte es. Indirekt war sie für den Tod von Victoria Daly verantwortlich – und er wußte es. Sie haben von seinen Wutausbrüchen gehört. Warum hat er sie also nie angeprangert, obwohl er sich gewiß danach sehnte?

Weil er es nicht konnte. Weil jeder von beiden das Geheimnis des anderen bewahrte. Er wußte zwar nicht, ob er wirklich nicht Sir John Farnleigh war – aber er befürchtete es. Er wußte nicht, ob sie beweisen könnte, daß er es nicht war, und es beweisen würde, sobald er sie herausforderte – aber er befürchtete es. Er war ja nicht ganz der feine Kerl, als den Miss Dane ihn uns beschrieben hat. Gewiß, er war nicht mit Absicht ein Betrüger. Er hatte tatsächlich die Erinnerung verloren und versuchte verzweifelt, sie wiederzufinden. Oft genug war er sich sicher, daß er wirklich der echte Farnleigh war. Aber es war nur natürlich, daß er das Schicksal nicht herausfordern wollte, es sei denn, es drängte ihn in eine Ecke, in der ihm nichts anderes übrigblieb. Denn es war nicht ausgeschlossen, daß auch er ein Verbrecher war.«