Nathaniel Burrows sprang auf.
»Das kann ich nicht hinnehmen!« rief er mit schriller Stimme. »Und ich werde es nicht hinnehmen! Inspektor, ich fordere Sie auf, verbieten Sie diese Unterstellungen. Der Mann hat nicht das Recht, unhaltbare Behauptungen über meine Klienten aufzustellen! Als Vertreter des Gesetzes ist es Ihre Aufgabe …«
»Besser, Sie setzen sich wieder hin, Sir«, sagte Elliot ruhig.
»Aber …«
»Setzen Sie sich, Sir.«
Madeline wandte sich an Dr. Fell.
»Etwas in dieser Art haben Sie ja schon früher am Abend gesagt«, knüpfte sie an. »Daß er unter dem Gefühl eines Verbrechens gelitten habe, auch wenn er nicht wußte, was es war. Dieses ›Gefühl eines Verbrechens‹, das ihn ja erst recht zum Puritaner machte, scheint sich durch die ganze Affäre zu ziehen; aber ehrlich gesagt, verstehe ich bis jetzt nicht, wie es mit allem anderen zusammenhängt. Können Sie uns das erklären?«
Dr. Fell steckte die leere Pfeife in den Mund und zog daran.
»Die Erklärung«, antwortete er, »hat mit einer krummen Türangel zu tun und der weißen Tür, die daran hing. Das ist das Geheimnis, um das dieser ganze Fall sich dreht. Wir werden gleich darauf kommen.
Jeder von beiden hatte also das Geheimnis des anderen wie einen Dolch im Ärmel und tat dabei doch vor aller Welt, selbst vor dem anderen, als sei alles in schönster Ordnung. Sie waren gerade einmal drei Monate verheiratet, als Victoria Daly umkam, ein Opfer des geheimen Hexenkults. Wir können uns ausmalen, was Farnleigh damals empfand. Könnte ich doch nur einmal … wurde für ihn zum Fetisch, zum Refrain. Und solange er nicht konnte – nämlich aller Welt sagen, was er wußte –, war sie in Sicherheit. Über ein Jahr lang war sie in Sicherheit.
Doch dann kam der Donnerschlag – ein anderer erschien, der Titel und Besitz für sich beanspruchte. Worauf ihr blitzschnell eine Reihe von Dingen aufging, so klar und logisch und zwingend wie das ABC.
Er war, wie sie wußte, nicht der wahre Erbe.
Es schien wahrscheinlich, daß der Herausforderer sich als der wahre Erbe erweisen würde.
Wenn der Herausforderer sich als der wahre Erbe erwies, würde ihr Mann sein Vermögen verlieren.
Wenn er sein Vermögen verlor, gab es für ihn keinen Grund mehr, nicht zu sagen, was er über sie wußte, und er würde nicht zögern.
Also mußte er sterben.
So einfach ist das, meine Damen und Herren, und ebenso gewiß.«
Kennet Murray regte sich in seinem Sessel und zog die Hand fort, mit der er sich die Augen beschirmt hatte.
»Einen Augenblick, Doktor. Das wäre also ein lange vorbereitetes Verbrechen gewesen?«
»Nein!« rief Dr. Fell aus tiefster Überzeugung. »Nein, nein, nein! Das muß ich ausdrücklich betonen. Die Tat war brillant ausgedacht und ausgeführt, doch beides geschah erst vorgestern abend, beides binnen Sekunden. Es war genauso spontan wie jene andere Tat tags darauf, als der Automat die Treppe hinuntergestoßen wurde.
Lassen Sie mich erklären. Als sie erfuhr, daß es einen Herausforderer gab (und zwar früher, würde ich vermuten, als sie zugab), da wird sie davon ausgegangen sein, daß sie vorerst nichts zu befürchten habe. Ihr Mann würde die Ansprüche des anderen bestreiten; sie mußte ihn dazu bringen, daß er sie bestritt, und – so ironisch das war – für ihn kämpfen. Sie konnte sich nicht wünschen, daß er seinen Besitz verlor, so sehr sie ihn auch haßte, sondern mußte sich jetzt enger an ihn halten denn je. Es war gut denkbar, daß er sich vor Gericht durchsetzen konnte, denn das Gesetz steht immer eher auf seiten des Inhabers eines Titels, und die Gerichte sind bei solchen Besitzstreitigkeiten sehr vorsichtig. Und auf alle Fälle würde das Verfahren sich in die Länge ziehen, so daß sie Zeit hatte, in Ruhe zu überlegen.
Was sie nicht wußte – weil die Gegenseite das Geheimnis bis vorgestern abend sorgfältig hütete –, war, daß es die Fingerabdrücke gab. Hier war nun plötzlich ein eindeutiger Beweis. Hier war Gewißheit. Mit diesem mörderischen Fingerabdruck ließ sich die ganze Angelegenheit binnen einer halben Stunde klären. Sie kannte ihren Mann gut genug, seine unbeirrbar ehrliche Art, und wußte, daß er seinen Betrug zugeben würde, sobald er erst einmal selbst überzeugt war: sobald er in seinem tiefsten Innersten wußte, daß er nicht John Farnleigh war.
Als diese Bombe platzte, begriff sie sofort, in welch unmittelbarer Gefahr sie sich befand. Erinnern Sie sich an Farnleighs Stimmung an jenem Abend? Wenn Sie es mir korrekt beschrieben haben, steckte doch hinter jedem Wort, das er sprach, hinter jeder Bewegung, die er machte, der eine allesbeherrschende, unerbittliche Gedanke: ›Hier hätten wir also den Test. Wenn ich ihn bestehe, will ich es gern zufrieden sein. Wenn nicht, dann bleibt mir ein Trost, der beinahe alles andere aufwiegt: Ich kann endlich sagen, wer meine Frau wirklich ist.‹ – Ahemm, ja. Habe ich seine Stimmung korrekt gedeutet?«
»Ja«, gab Page zu.
»Deshalb griff sie zu verzweifelten Mitteln. Sie mußte unverzüglich handeln. Sofort und auf der Stelle! Sie mußte handeln, bevor der Vergleich der Fingerabdrücke abgeschlossen war. Sie schritt zur Tat – wie gestern auf dem Dachboden, als sie schon zum Schlag nach mir ausholte, bevor die Worte noch aus meinem Munde waren –, sie zögerte keine Sekunde und tötete ihren Mann.«
Burrows, weiß im Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, hatte vergebens auf den Tisch gehämmert, um zur Ordnung zu rufen. Doch nun sprach er wieder mit einem Funken Hoffnung.
»Offenbar gibt es nichts, was Sie aufhalten kann«, sagte Burrows. »Wenn die Polizei es nicht tut, bleibt mir nur der Protest. Aber jetzt, habe ich das Gefühl, sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem schöne Theorien allein nicht mehr ausreichen. Ich will nicht weiter darauf eingehen, daß Sie keinerlei Beweise haben. Doch solange Sie uns nicht erklären, wie Sir John ermordet wurde – allein, vergessen Sie das nicht, mit keiner Menschenseele in der Nähe – solange Sie das nicht beweisen können …« Die Worte blieben ihm im Halse stecken; er stammelte nur noch und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Und das, Doktor, können Sie nicht.«
»O doch«, sagte Dr. Fell. »Das kann ich.
Das erste Indiz, das uns wirklich weiterhalf, bekamen wir gestern bei der gerichtlichen Untersuchung«, fuhr er nachdenklich fort. »Wir können froh sein, daß alles im Protokoll steht. Danach mußten wir nur noch ein paar Beweisstücke aufheben, die schon die ganze Zeit vor unserer Nase gelegen hatten. Wir bekommen den entscheidenden Hinweis zu hören. Wir gehen ihm nach. Wir bringen alles, was wir wissen, in die richtige Reihenfolge. Wir überreichen es dem Staatsanwalt. Wir ziehen den Riegel zurück« – er machte eine Handbewegung –, »und die Falltür am Galgen öffnet sich.«
»Den Beweis haben Sie bei der Verhandlung zu hören bekommen?« fragte Murray und starrte ihn an. »Von wem?«
»Von Knowles«, sagte Dr. Fell.
Der Butler stieß einen wehklagenden Laut aus. Er trat einen Schritt vor und schlug sich die Hände vors Gesicht. Aber er sagte nichts.
Dr. Fell betrachtete ihn.
»Oh, ich weiß«, brummte der Doktor. »Das ist bittere Medizin. Aber es läßt sich nicht leugnen. Es ist eine ironische Wendung. Aber wir können nichts machen. Knowles, mein Alter, Sie vergöttern diese Frau. Sie haben sie gehätschelt wie ein Kind. Doch durch Ihre Zeugenaussage, durch Ihr aufrechtes Streben, uns die ganze Wahrheit zu sagen, haben Sie sie in aller Unschuld so zuverlässig gehängt, als hätten Sie ihr selbst die Schlinge umgelegt.«